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Lehreinheit Nr. 6: Einheitlichkeit in der Spielleitung: Über Berechenbarkeit und taktische Ausgewogenheit

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Nach einer halben Stunde des gestrigen Pokal-Halbfinals zwischen Bayern München und Borussia Dortmund konnte man als Anhänger des dritten Teams auf dem Platz einige Sorgenfalten bekommen: Trotz guten Starts mit einem zu Recht verweigerten Handelfmeter für die Bayern geriet Referee Manuel Gräfes Spielleitung zusehends ins Wanken. Dass seine Akzeptanz und Autorität zwischenzeitlich spürbar litten, lag dabei hauptsächlich an einem Problem: Uneinheitlichkeit. Eine praxisbeispielgestützte Lehreinheit zu einem der wichtigsten Merkmale schiedsrichterlicher Exzellenz.


Als Dortmunds Ousmane Dembélé nach 25 Minuten die Gelbe Karte sah, verlor die Dortmunder Bank endgültig die Fassung: Dembélé setzte kurz vor dem eigenen Strafraum zur Grätsche an und spielte im Zweikampf mit Franck Ribéry zunächst klar den Ball. Anschließend traf er seinen Landsmann jedoch mit seinem Nachziehbein. Angesichts der moderaten bis hohen Intensität des Tacklings gab es zu Recht einen Freistoß – ob eine Verwarnung hier zwingend war, kann man schon eher diskutieren. Und zwar vor allem deshalb, weil es auf der anderen Seite nur zwei Minuten zuvor für ein ähnliches Vergehen keine Karte gab: Xabi Alonso grätschte im Mittelfeld mit relativ hoher Intensität und gestrecktem Bein in Richtung Ball. Neben Letzterem berührte er jedoch auch seinen Gegenspieler Marco Reus und brachte ihn so zu Fall – auf viel zu riskante und dem Regelwerk nach durchaus rücksichtslose Art und Weise. Gräfe ließ die Karte hier allerdings stecken.


Entweder beide oder keiner

Dies war nicht nur regeltechnisch grenzwertig, sondern auch unter taktischen Gesichtspunkten unclever. Da der Unparteiische aus Berlin wenige Minuten zuvor Julian Weigl für ein taktisches Vergehen verwarnt hatte, bot sich ihm die von Schiedsrichtern zumeist dankbar angenommene Gelegenheit, die Kartenbilanz zügig auszugleichen – dies hätte rückblickend für wahrgenommene Balance und Ausgewogenheit zwischen den beiden Teams gesorgt: Xabi Alonso zu verwarnen, war technisch nicht nur möglich oder ratsam, sondern in Anlehnung an den Schiedsrichterjargon nahezu taktisch zwingend. Da der Referee dies nicht tat, war es wenig überraschend, dass es zu ersten heftigeren Dortmunder Protesten kam.

Mit der Verwarnung gegen Dembélé goss der Unparteiische aus Berlin noch einmal ungewollt zusätzliches Öl ins Feuer der Dortmunder Entrüstung: Angesichts der Intensität war Dembélés Tackle sogar noch eine Spur harmloser als jenes von Xabi Alonso. Kaum überraschend, dass bei den Borussen nun das Gefühl aufkam, dass hier mit zweierlei Maß gemessen werde – was objektiv betrachtet auch der Fall war. Ohne Zweifel muss in der Rückschau konstatiert werden: Der Schiedsrichter hätte entweder beide oder keinen verwarnen sollen. Alles andere war in diesem Fall unausgewogen und wenig berechenbar.  


Uneinheitlichkeit führte zu Akzeptanzmangel

In den Folgeminuten entwickelte sich das Spiel mehr und mehr zum Debattierclub: Vielleicht unter dem Eindruck der Dortmunder Proteste pfiff Gräfe in der 29. Minute einen nicht unumstrittenen Freistoß für die Gäste. Dabei wurde Gräfe von nahezu sechs protestierenden Bayern umringt – nun fühlte sich offenbar auch das zuerst 'bevorteilte' Team unfair behandelt. Nach der Mauerstellung missachteten gleich mehrere Bayern die durch das Freistoßspray markierte Distanz von 9,15 Metern. Während Gräfe nachjustierte, beschloss Arjen Robben kurzerhand, die vom Referee festgelegte Mauerdistanz selbst abzuschreiten: Damit führte er die Autorität des Schiedsrichters vor aller Augen vor, die Akzeptanz des Referees befand sich zu diesem Zeitpunkt auf einem Tiefstand.

Dies spiegelte sich auch darin wider, dass Gräfe nahezu bei jedem noch so kleinen Protest von den Rängen oder Bänken gestikulierte, um bspw. die Unabsichtlichkeit von Handspielen zu simulieren (was oft eine positive Wirkung entfaltete - so z.B. nach dem unabsichtlichen Handspiel von Weigl -, jedoch nicht immer sein Ziel erreichte und an mancher Stelle "too much" wirkte - und darüberhinaus im Regelwerk so eigentlich nicht erwünscht ist). 

Glücklicherweise gelang es dem Referee ab der 30. Minute, seine Autorität durch überwiegend treffsichere Entscheidungen wieder einzufangen – dabei half es sicher auch, Robben für seine unsportliche Aktion in der 29. Minute mit einer entsprechenden Signalwirkung zu verwarnen. Ob der Autoritätsrückgewinn aber vielleicht auch nur Zufall oder das Glück des ansonsten Tüchtigen war, lässt sich in der Rückschau natürlich nur schwer beurteilen.

Losgelöst von diesem konkreten Spiel lohnt es sich, die Thematik der Einheitlichkeit weiter zu vertiefen.


Zur Theorie von Einheitlichkeit in der Spielleitung

Einheitlichkeit (engl.: "consistency") gehört zu den Kernmerkmalen einer guten Schiedsrichterleistung. Spieler, Trainer, Zuschauer und Medien erheben in Zeiten des schnelllebigen Fußballs inzwischen kaum mehr den Anspruch, dass Schiedsrichter in ihren Entscheidungen immer richtig zu liegen haben – wohl wissend nämlich, dass dies nicht möglich ist. Was die genannten Akteure sehr wohl erwarten (dürfen), ist eine einheitliche Spielleitung in der Entscheidungsfindung und im Umgang mit den Spielern.

Einheitlichkeit meint hier, dass unter gleichen oder vergleichbaren Umständen dieselben oder zumindest ausgewogene Entscheidungen getroffen und die Spielregeln beiden Teams gegenüber in gleicher Weise ausgelegt werden (vgl. Weinberg & Richardson, 1990).


Zwei Arten von Einheitlichkeit

Die bereits skizzierte Form der Einheitlichkeit innerhalb eines Spiels (intra-consistency) kann von einer Einheitlichkeit zwischen verschiedenen Spielen bzw. Spielleitungen (inter-consistency) abgegrenzt werden. Letztere ist vor allem für Schiedsrichterkommissionen relevant, die dafür Sorge tragen müssen, dass unterschiedliche Spiele von unterschiedlichen Schiedsrichtern in annähernd ähnlicher Weise mit annähernd ähnlichen Entscheidungen in ähnlichen Situationen geleitet werden (diese Satzkonstruktion ist Sinnbild für die Komplexität dieser Aufgabe). Diese Art der Einheitlichkeit soll hier jedoch nicht weiter vertieft werden.

Stattdessen soll die erstgenannte Form der Einheitlichkeit im Zentrum stehen – denn sie betrifft letztlich jeden Schiedsrichter in praktisch jedem Spiel. Die Wichtigkeit dieses Kernmermkals einer guten Unparteiischenleistung zeigt sich besonders dann, wenn Einheitlichkeit fehlt und es in der Folge zu negativen Konsequenzen kommt..


Negative Konsequenzen von Uneinheitlichkeit

Die folgenden negativen Konsequenzen von Uneinheitlichkeit betreffen in erster Linie eine uneinheitliche Behandlung der beiden Teams. Uneinheitlichkeit kann aber auch auf niedrigerer Ebene zustandekommen, und zwar meistens dann, wenn der Schiedsrichter keine klare Linie in seiner Zweikampfbewertung fährt. Zwar ist dann in der Regel nicht ein Team besonders benachteiligt. Gleichwohl führt die fehlende Berechenbarkeit des Schiedsrichters dann häufig dazu, dass auf und neben dem Platz Unklarheit darüber herrscht, was in den Augen des Referees erlaubt und was unerlaubt ist. Irritation und Zweifel sind dadurch vorprogrammiert – und das sind noch die harmlosesten Folgen.

Gerade vor dem Hintergrund des gestrigen Halbfinals sollen hier jedoch Konsequenzen von Uneinheitlichkeit in der Behandlung der beiden Teams im Mittelpunkt stehen:



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Bei den (vermeintlich) benachteiligten Akteuren machen sich ein Gefühl der Ungleichbehandlung sowie Frust und Wut breit.
Diese führen meist unmittelbar zu Protesten, welche die Akzeptanz des Referees bedrohen.
Die Autorität des Schiedsrichters schwindet ebenso wie das Vertrauen in ihn und in die Unvoreingenommenheit seiner Entscheidungen.
Auf Seiten des Schiedsrichters besteht die Gefahr, dass er in der Folge verzerrte Urteile fällt und mehr oder weniger unbewusst versucht, die empfundene Uneinheitlichkeit durch Entscheidungen zugunsten des potenziell benachteiligten Teams zu kompensieren (Negative Kompensation).
Dies wiederum kann zu Protesten auf Seiten des zuvor benachteiligten Teams mit den entsprechenden negativen Folgewirkungen führen - ein Teufelskreis setzt ein.

Besonders schwer wiegt der vorletzte Punkt: Unparteiische sollten nie versuchen, vorherige Fehler, Ungleichbehandlungen oder Proteste zum Anlass zu nehmen, diese in kommenden Situationen zu sehr zu berücksichtigen – auch wenn man als Schiedsrichter oft sehr schnell weiß oder spürt, dass man soeben daneben gelegen hat.

Unbewusste Fehlurteile auf der einen Seite durch bewusste Fehlurteile auf der anderen Seite auszugleichen, ist keine probate Lösung! Stattdessen sollten Schiedsrichter standhaft bleiben, ihre Autorität verteidigen und unvoreingenommene Entscheidungen treffen.

Denn zum einen wird durch eine negative Kompensation das Gebot der Unparteilichkeit verletzt. Zum anderen führen etwaige Konzessionsentscheidungen oder Kompensationsversuche nur zu einem noch größeren Schaden in puncto Vertrauensverlust und Akzeptanz. Dies unterstreicht auch Knut Kircher im folgenden Interviewausschnitt:



Einheitlichkeit erreichen

Doch wie kann man Einheitlichkeit erreichen? Einige praktische Empfehlungen:

1. Ausgewogenheit beginnt schon vor dem Spiel 

Ob bei der Begrüßung, Passkontrolle oder Seitenwahl: In Wortwahl und im gesamten Umgang mit Vereinsverantwortlichen, Teamoffiziellen und Spielern sollten stets ein gleicher Umgang sowie eine angemessene Mindestdistanz angestrebt werden.

2. Klare Linie fahren

Von Beginn an sollte eine klare, einheitliche Linie in der Zweikampf- und Disziplinarbewertung gefahren werden. Diese sollte zum Spiel passen (Stichwort "Spielvorbereitung"), sich aber auch flexibel an die Gegebenheiten und Erfordernisse der jeweiligen Situation anpassen und entsprechende Kalibrierungsräume nach oben (seltener: nach unten) zulassen. Hierfür ist Situationsgespür nötig, das meist mit der Erfahrung reift.

3. Vertrauen gewinnen

Einheitlichkeit hängt eng mit Vertrauen in die Entscheidungen des Schiedsrichters zusammen. Einheitlichkeit schafft Vertrauen – Vertrauen trägt wiederum dazu bei, dass die Spielleitung als einheitlich bzw. fair wahrgenommen wird – beide Komponenten beeinflussen sich wechselseitig. Ein Schiedsrichter kann durch vermeintliche basale Dinge wie Regelsicherheit, akkurate Regelinterpretation, Konzentration und eine vertrauensstiftende Nähe im Positionsspiel sichere Entscheidungen treffen, als einheitlich und berechenbar wahrgenommen werden und dadurch nachhaltiges Vertrauen aufbauen.

4. Auch im Umgang Einheitlichkeit anstreben

Auch im Management von Spielern und Trainern – bspw. bei verbalen Ermahnungen – sollten Schiedsrichter einen gleichen oder zumindest ausgewogenen, der Situation gerecht werdenden Umgang zeigen. Dies betrifft insbesondere die Körpersprache.

5. Taktische Aspekte in Entscheidungsfindung integrieren

Bei strittigen Entscheidungen sollten sich Schiedsrichter stets hinterfragen: Gab es bereits eine ähnliche Situation? Wie habe ich dort entschieden? Wo sollte ich dieses Vergehen in meiner Linie verorten? Wie sieht die Kartenstatistik im Moment aus? Was passiert, wenn ich hier die Karte stecken lasse? 

6. Regelwerk nicht überstrapazieren

Doch Achtung: Liegen bspw. technisch zwingend gelbwürdige Vergehen vor, müssen taktische Überlegungen zunächst in den Hintergrund rücken - Gelbe Karten sind Gelbe Karten.

7. Keine Kompensationsversuche unternehmen

Ganz wichtig: Wahrgenommene Uneinheitlichkeit sollte nicht durch bewusst uneinheitliche Folgeentscheidungen kompensiert oder gar repariert werden.


Fazit

Einheitlichkeit ist ein Kernmerkmal dessen, was gute Schiedsrichter(leistungen) auszeichnet und was Spieler, Trainer und Zuschauer ohne Einschränkung voraussetzen können. Schiedsrichter sollten in ihren Entscheidungen und in ihrem Handeln ausgewogen, berechenbar und verlässlich agieren. Dies schafft Vertrauen, Akzeptanz und Autorität. Ein Mangel an wahrgenommener Einheitlichkeit kann zum Verlust der Souveränität des Unparteiischen führen und birgt die Gefahr, dies bewusst oder unbewusst etwa durch Konzessionsentscheidungen kompensieren zu wollen. Deshalb ist es immens wichtig, dass Schiedsrichter eine klare, flexibel anpassbare, aber stets berechenbar-ausgewogene Linie vorgeben und darauf achten, beide Teams in ihren Entscheidungen und in der Interaktion in gleichen Situationen gleich zu behandeln.

Manuel Gräfe wird die erste halbe Stunde sicher zur eigenen Weiterentwicklung analysieren, traf er doch ansonsten alle wesentlichen Entscheidungen in korrekter oder mindestens vertretbarer Weise. Er wird sich hinterfragen müssen, ob seine Spielleitung zwischen der 20. und 30. Minute nicht ein Stück an Einheitlichkeit und dadurch auch an Autorität und Akzeptanz hat vermissen lassen.

Selbstverständlich lassen sich solche Bewertungen im Nachhinein immer leicht sagen. Denn wenn nach der nicht gegebenen Gelben Karte gegen Xabi Alonso alles ruhig geblieben wäre, hätte man Gräfe wohl Situationsgespür, eine gute Ansprache und eine zum Spiel passende und von den Spielern akzeptierte Linie attestiert. Hinterher ist man schließlich zwar nicht immer, aber doch meistens schlauer.


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