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Archiv - Alle Lehreinheiten auf einen Blick

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Archiv - Alle Nachspielzeit-Kolumnen auf einen Blick

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Collinas Erben

Collinas Erben“ ist Deutschlands einziger Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei – und verfolgt dabei stets das Ziel, Verständnis für das Amt des Schiedsrichters zu schaffen.

Außer dem Podcast gibt es von „Collinas Erben“ auch Kolumnen für n-tv.de und GMX/web.de zu Entscheidungen der Referees in Bundesliga, DFB-Pokal und Europacup.

Zum praxisnahen Austausch aktueller Entwicklungen und Spielsituationen stehen „Collinas Erben“ und Schirilogie in regelmäßigem Austausch.


Offside Explained

Offside Explained (law-11.com) ist die weltweit einzige Website, die sich auf die Fußballregel Nr. 11 spezialisiert hat. Auf Basis der eigenen Erfahrung des Autors als FIFA-Schiedsrichterassistent werden dort technische Grundlagen sowie praktische Auslegungen der Arbeitsregel professionell und gleichzeitig anschaulich erläutert.

Dazu greift der Betreiber von Offside Explained auf laufend aktualisierte Videomaterialien zurück, welche er auf einer separaten Vimeo-Präsenz zur Verfügung stellt. Psychologische Hintergründe zur Wahrnehmung von Abseitsstellungen bleiben dort ebenso wenig unbeleuchtet wie aktuelle Trends aus dem Bereich der Abseitsregel.

Offside Explained und Schirilogie arbeiten insbesondere mit Blick auf diese psychologischen Aspekte der Arbeitsthematik eng zusammen.


Lehreinheit Nr. 1: Rolleninterpretation als Schiedsrichter - Regelhüter oder Spielleiter?

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Auf Seite 45 der aktuellen Spielregeln heißt es zu Beginn der Regel 5: „Jedes Spiel wird von einem Schiedsrichter geleitet, der die uneingeschränkte Befugnis hat, die Spielregeln beim Spiel durchzusetzen.“ Dass es mit dem Durchsetzen von wörtlichen Regeln nicht getan ist, ist inzwischen weitgehend unbestritten. Stattdessen hat sich das Rollenkonzept des Spielleiters etabliert – in der Praxis wie in der Forschung. Verbunden mit einer empirischen Erhebung des Rollenkonzepts deutscher Fußball-schiedsrichter werden im Folgenden Zusammenhänge und Konsequenzen der schiedsrichterlichen Rolleninterpretation aufgezeigt.

Ausgestattet mit einer auf dem Spielfeld nahezu unbeschränkten Entscheidungsgewalt – Rullang, Emrich und Pierdzioch (2015) bezeichnen diese als die „formale Amtsautorität des Schiedsrichters“ (S. 223) – sorgt er für die Einhaltung des Regelwerks und ahndet potenzielle Regelverstöße mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln (darunter fallen demnach vorwiegend Disziplinar- und Spielstrafen).

In der Vergangenheit dominierte somit eine eindimensionale Betrachtung der Schiedsrichterrolle als Regeldurchsetzer (z.B. Plessner & Betsch, 2001). Eine gelungene Schiedsrichterleistung erstreckt sich allerdings nicht nur auf die Kenntnis und strikte Anwendung der Regeln, die ohnehin in vielen Fällen Ermessensspielräume zulassen (als Beispiel seien hier die Kriterien zur Beurteilung absichtlicher Handspiele erwähnt). Sie zeigt sich dagegen z.B. auch darin, Spiele trotz getroffener Fehlentscheidungen sicher über die Bühne zu bringen (vgl. Brand & Neß, 2004).

Zu einer gelungenen Leistung gehört mehr als nur die reine Regelanwendung

Mascarenhas, Collins und Mortimer (2002) schlugen in der Folge das Konzept des game-managenden Spielleiters vor. Während Regelhüter auf eine strikte Einhaltung des Regelwerks Wert legen, verfolgen Spielleiter dagegen das übergeordnete Ziel, „das Spiel spielbar [zu] machen“ (Brand & Neß, 2004, S. 129). Dabei helfen ihnen Empathie, kommunikative Stärke und Aspekte der Persönlichkeit.

Unterstützt wird die Abkehr von einem reduzierten Rollenkonzept des Schiedsrichters als Regeldurchsetzer auch durch Selbsteinschätzungen von Unparteiischen. In einer Befragung mit mehreren tausend deutschen Fußballschiedsrichtern wurde die Regelkenntnis zwar als das wichtigste Charakteristikum eines guten Referees bewertet, Faktoren wie die Regelauslegung oder das schiedsrichterliche Erfahrungswissen wurden jedoch als nur geringfügig weniger relevant eingeschätzt (Rullang et al., 2015).


Hinweise aus anderen Teamsportarten

Brand und Neß (2004) untersuchten das schiedsrichterliche Rollenselbstbild in anderen Teamsportarten (Basketball, Eishockey, Handball). Auch hier zeigte sich eine starke Tendenz zugunsten einer Rolleninterpretation als Spielleiter (Brand & Neß, 2004). Weiterhin wurden Unterschiede zwischen Schiedsrichtern unterschiedlich hoher Leistungsklassen deutlich: Während das Selbstverständnis als Spielleiter im Eishockey in niedrigklassigen Ligen tendenziell weiter verbreitet ist als jenes als Regeldurchsetzer, gilt bei den Gruppen der Handballschiedsrichter der umgekehrte Effekt (wobei signifikante Ergebnisse weitgehend ausblieben). Unterschiedliche Leistungs- bzw. Erfolgsklassen unterschiedlicher Sportarten scheinen also verschiedene, an die Spielbedürfnisse angepasste Herangehensweisen seitens der Unparteiischen zu erfordern oder zu prägen.


Was das für den Fußball bedeutet

Auf den höherklassigen, kommerzialisierten Profifußball, in dem „Schiedsrichter … mit ihren Entscheidungen wesentlich zur Inszenierung bei[tragen]“ (Brand & Neß, 2004, S. 129), lässt sich dies insofern übertragen, als dass manchmal die dem Spiel bzw. dem Spektakel dienlichere Entscheidungsalternative gewählt wird (Stichwort „internationale Härte“ in Zweikämpfen). In einem Jugendfußballspiel kann ein hartes Durchgreifen von Beginn an unter pädagogischen Gesichtspunkten durchaus bessere Resultate erzielen.

Im professionellen Fußballschiedsrichterwesen gehört es heutzutage zum Common Sense, dass Regelkenntnis allein kein hinreichendes, sondern maximal notwendiges Merkmal eines guten Referees ist. Vielmehr gewinnen Aspekte des Game-Managements, wie z.B. die Regelinterpretation, Kommunikationsfertigkeiten oder eine antizipativ-proaktive Spielleitung, zusehends an erfolgskritischer Bedeutung. Dies aufgreifend merkt etwa Pierluigi Collina – Schiedsrichterlegende und derzeitiger UEFA-Schiedsrichterchef – an:

„There was a time [when] a very good referee had to know the soccer game rules by heart. This is over. Today, only the referee who can estimate … what might happen during the match has the potential to reach world-class.” (Collina, 2015).

Und UEFA-Vize-Schiedsrichterchef Hugh Dallas ergänzt:

“The most important law is not written down – the so-called ‘Law 18’ – and this is about common sense. A referee may have a great knowledge and understanding of the laws, but to apply them in a correct manner is a required skill.” (Dallas, 2015).

Die folgende Tabelle stellt die beiden Konzepte "Regelhüter" und "Spielleiter" anschaulich gegenüber:


Regelhüter
Spielleiter
Übergeordnetes Ziel
Regeln Geltung verschaffen
Spiel spielbar machen
Fokus auf …
Regelanwendung
Spielleitung
Art der Regelauslegung
wortwörtlich
sinngerecht
Wahrnehmung durch Akteure ...
als konsequent (positiv),
als pedantisch (negativ)
als partnerschaftlich (positiv),
als inkonsequent (negativ)
Chancen
Berechenbarkeit, Konsequenz, klare Linie, die Vergehen und Verletzungen vorbeugt
Ansehnliches Spiel mit viel Fluss, menschenverstandsgemäße Anwendung der Regeln
Risiken
Mangel an Menschenverstand und kontextbezogener, situationsadäquater Interpretation
Gefahr der Überdehnung bzw. des Überstrapazierens des Regelwerks auf Kosten des Fairplays oder der Gesundheit der Spieler

Welche Rolleninterpretation bzw. welches Selbstbild bei Fußballschiedsrichtern tatsächlich vorliegen, ist bislang jedoch ungeklärt. Aus den vorangegangenen Ausführungen lassen sich vorab folgende Hypothesen ableiten:

1. Hypothese: Fußballschiedsrichter interpretieren ihre Rolle eher als die eines Spielleiters statt die eines Regelhüters.

2. Hypothese: Das Rollenkonzept des Spielleiters ist bei Schiedsrichtern in höheren Ligen stärker anzutreffen.

Weiterhin kann vermutet werden, dass das präferierte Rollenkonzept auch davon abhängt, wie ein Schiedsrichter als Person gestrickt ist, sprich, welche Persönlichkeitseigenschaften bei ihm wie stark ausgeprägt sind.

Persönlichkeitseigenschaften werden als Merkmale verstanden, die a) zeitlich relativ stabil sind, b) interindividuell – also von Person zu Person – variieren und c) Rückschlüsse auf Verhalten zulassen (Pekrun, 1996).

Zum Zusammenhang zwischen Persönlichkeitseigenschaften und der Rolleninterpretation als Schiedsrichter liegen bisher keine Erkenntnisse vor. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass sich bspw. diszipliniertere Personen als Schiedsrichter stärker an die wörtlichen Spielregeln halten als weniger disziplinierte Personen (denn disziplinierte Menschen neigen allgemein zu starrem Festhalten an Regeln, s. Hogan & Hogan, 2001). Überdies liegt es nahe, dass das Ausmaß an kommunikativer, empathischer Stärke, die Schiedsrichter zu einer Rolleninterpretation als Spielleiter befähigen, auch von seiner Sozialkompetenz abhängt. Sozial kompetentere Personen begreifen die Rolle als Schiedsrichter also womöglich stärker als eine Gelegenheit zur sozialen Interaktion, die sie neben der rigiden Regeldurchsetzung dabei unterstützen kann, das Spiel und die Spieler unter ihrer Kontrolle zu behalten.

Intuitiv ergeben sich demnach die beiden folgenden Hypothesen:

3. Hypothese: Die Persönlichkeitseigenschaft Disziplin steht in positivem Zusammenhang zur Rolleninterpretation als Regeldurchsetzer.

4. Hypothese: Die Persönlichkeitseigenschaft Sozialkompetenz steht in positivem Zusammenhang zur Rolleninterpretation als Spielleiter.


Untersuchung der Rolleninterpretation deutscher Fußballschiedsrichter

Als Teil einer größer angelegten Befragung zur Persönlichkeitsstruktur von Fußballschiedsrichtern, die ich im letzten Jahr mit der Unterstützung des Projektteams Testentwicklung der Ruhr-Universität Bochum und zahlreicher Landesverbände durchgeführt habe, wurde diese Lücke geschlossen. Zum Einsatz kam das BIP-6F– ein etabliertes Persönlichkeitsverfahren, das die berufsbezogene Persönlichkeit auf sechs Faktoren beschreibt (die Ergebnisse zur Persönlichkeitserhebung befinden sich derzeit im Veröffentlichungsprozess und dürfen daher hier nicht dargestellt werden). In die Auswertung gehen 1678 männliche, deutsche Fußballschiedsrichter, die zum Zeitpunkt der Befragung mindestens 18 Jahre alt waren, ein.

Eine vereinfachte Trennung nach Ligenhöhe erfolgte durch die Bildung von drei Erfolgsgruppen (Höherklassig: Bundesliga, 2. Bundesliga, 3. Liga und Regionalliga; Mittelklassig: Ober-, Verbands- bzw. Landesliga; Niedrigklassig: Bezirks- und Kreisliga). Die Schiedsrichter wurden den Erfolgsgruppen manuell zugeordnet - je nach dem, welches die höchste Liga war, in der sie bisher aktiv gewesen waren.

Die individuelle Rolleninterpretation wurde durch die Frage „Betrachten Sie sich in Ihrer Rolle als Schiedsrichter eher als Regelhüter oder Spielleiter?“ auf einer sechsstufigen Skala (1 = Regelhüter, 6 = Spielleiter) erhoben.

Die Persönlichkeitsmerkmale Disziplin und Sozialkompetenz wurden jeweils durch zehn Items erfasst, die alle statistisch bzw. psychometrisch relevanten Gütekriterien erfüllt haben (für Interessierte: Cronbachs Alpha beträgt für Disziplin .78, für Sozialkompetenz .81).


Ergebnisse

Mit einem Mittelwert von M = 4.70 (SD = 1.21) sowie Modus Mo = Median Md = 5 sehen sich die befragten Fußballschiedsrichter selbst mehr als Spielleiter denn als Regelhüter. Ein differenziertes Bild ergibt sich durch eine erfolgsgruppenspezifische Betrachtung der Ergebnisse:

Rolleninterpretation
n1
M1
SD1
Korrelation2 mit
Disziplin
Korrelation2 mit Sozialkompetenz
Gesamt
1678
4.70
1.21
-.02*
.17**
Höherklassig
134
5.24
0.89
--
--
Mittelklassig
735
4.87
1.10
--
--
Niedrigklassig
809
4.46
1.29
--
--
1n = Stichprobengröße, M = Mittelwert, SD = Standardabweichung (Streuung der Antworten) 2Korrelationskoeffzient Spearman’s rho; *nicht signifikant; **hoch signifikant zu p< .001 - bei .17 handelt es sich um einen kleinen Effekt; 1 = Regelhüter, 6 = Spielleiter

Demnach nimmt das Rollenkonzept des Spielleiters in jeweils steigender Richtung von der Erfolgsgruppe Niedrigklassig über Mittelklassig zu Höherklassig zu (die Unterschiede sind jeweils signifikant). Mit Blick auf die Persönlichkeitsmerkmale ergibt sich für die Gesamtstichprobe kein signifikanter Zusammenhang zwischen der Rolleninterpretation und dem Merkmal Disziplin.

Allerdings zeigt sich ein hoch signifikanter, statistisch also sehr bedeutsamer Zusammenhang zwischen der Rolleninterpretation als Spielleiter und der Persönlichkeitseigenschaft Sozialkompetenz.


Diskussion

Was bedeuten die Ergebnisse? 

Zum einen interpretieren deutsche Fußballschiedsrichter ihre Rolle offenbar deutlich stärker als Spielleiter denn als Regelhüter (1. Hypothese bestätigt). Zum anderen nimmt dies mit steigender Ligenhöhe bzw. Erfolgsgüte zu. Höherklassig agierende Schiedsrichter kennzeichnet demnach eine höhere Rolleninterpretation als managender Spielleiter im Vergleich zu ihren mittel- und niedrigklassigen Kollegen (2. Hypothese bestätigt). Unklar ist hier, in welche Richtung potentielle Effekte wirken - sprich: Es besteht ein klassisches Henne-oder-Ei-Problem. Es könnte sein, dass Erfahrungen als höherklassiger Schiedsrichter über die Zeit dazu führen, die eigene Rolle eher als Spielleiter auszugestalten und die Regeln nicht immer 1zu1 anzuwenden. Auf der anderen Seite ist es ebenso möglich, dass Spielleiter vermehrt in höhere Ligen aufsteigen – entweder da sich dieses Rollenkonzept positiv auf ihre Leistung auswirkt oder weil Schiedsrichterfunktionäre einen solchen Stil stärker präferieren.

Entgegen der Erwartung hängt das Rollenselbstbild als Regeldurchsetzer nicht mit dem Persönlichkeitsmerkmal Disziplin zusammen (3. Hypothese nicht bestätigt). Dies könnte darauf hindeuten, dass eine Interpretation als Spielleiter womöglich keineswegs automatisch bedeutet, dass man auf das Regelbuch „pfeift“. Auch Brand und Neß (2004) sind der Ansicht, dass die „Kontroverse … auf einem Missverständnis“ (S. 130) beruhe, welches sie folgendermaßen auflösen: „Diese beiden Auffassungen [also das Regelhüter- bzw. Spielleiterkonzept; Anm. des Verf.] schließen sich gegenseitig nicht aus. Vielmehr verhalten sie sich komplementär zueinander. Sie stellen zwei Seiten einer Medaille dar und sind in verschiedenen Situationen von verschiedener Bedeutung.“ (S. 129). Das Konzept des Spielleiters beinhaltet also womöglich bereits eine (sinngerechte) Anwendung des Regelwerks. Jedoch erfordert eine spielleitungsorientierte Rolleninterpretation aber sehr wohl Fähig- und Fertigkeiten der sozialen Interaktion (wie z.B. Empathie, Menschenverstand, starke Kommunikation), die sich in einem kleinen, aber statistisch sehr bedeutsamen positiven Zusammenhang zum Persönlichkeitsmerkmal Sozialkompetenz widerspiegeln und für Regelhüter weniger relevant erscheinen (4. Hypothese bestätigt).


Implikationen

Was bedeutet dies für Schiedsrichter und Schiedsrichterfunktionäre?

Fußballschiedsrichter interpretieren ihre Rolle als Spielleiter – und zwar umso stärker, je höher sie pfeifen. Um Unparteiische frühzeitig mit dem nötigen Rüstzeug für eine Karriere in höheren Spielklassen auszustatten, scheinen rein regelbasierte Lehrveranstaltungen also nicht ausreichend. Schiedsrichterfunktionäre sollten in ihrer Lehrarbeit neben regelbezogenen Schulungen daher auch Aspekte der Spielleitung (Spielintelligenz und -verständnis in der Regelauslegung, spieldienliche Linie in der Zweikampfbeurteilung, Kommunikation und Körpersprache usw.), z.B. in Form von Videomaterialien, vertieft berücksichtigen.

Bei Betrachtung des Zusammenhangs mit dem Faktor Sozialkompetenz lassen sich spezielle Schulungen von sozialen Kompetenzen mit explizitem Schiedsrichterbezug empfehlen, etwa mit Blick auf den effektiven Einsatz von Körpersprache, das Ausstrahlen von Selbstbewusstsein und Durchsetzungsstärke sowie einen respektvollen und empathischen Umgang mit den Spielern. Dies gilt prinzipiell für die Arbeit mit Schiedsrichtern aller Leistungsstufen. Wie das in der Praxis aussehen kann, zeigt z.B. eine Schulung des FLVW

Letztlich deutet der gefundene korrelative Zusammenhang zwischen dem Spielleiterkonzept und dem Merkmal Sozialkompetenz darauf hin, dass sich interindividuell variierende Schiedsrichterstile (Regelhüter oder Game-Manager) zumindest teilweise durch relativ stabile, personale Merkmale erklären lassen. Demzufolge ist die oft geforderte und angestrebte „einheitliche Linie“ (vgl. z.B. Gartenschläger, 2015) zwischen Spielleitungen unterschiedlicher Schiedsrichter nicht unbedingt zu erwarten.

Insgesamt deuten diese Befunde also die Notwendigkeit an, sich im Zuge der Lehrarbeit mit Aspekten der Spielleitung und interpersonalen, überfachlichen Kompetenzen auseinanderzusetzen. Dazu soll künftig auch Schirilogie beitragen!



Literatur

Brand, R. & Neß, W. (2004). Regelanwendung und Game-Management – Qualifizierende Merkmale von Schiedsrichtern in Sportspielen. Zeitschrift für Sportpsychologie, 11(4), 127-136.

Collina, P. (2015). “Visionary” know-it-all referee is the new normal in int’l football: star referees. English.news.cn. Zugriff am 22.05.2016, http://news.xinhuanet.com/english/2015-12/28/c_134957760.htm.

Dallas, H. (2015). In M. Chaplin, The importance of referee education (2015). UEFA.org. Zugriff am 22.05.2016, http://www.uefa.org/protecting-the-game/refereeing/news/newsid= 2207221.html.

Gartenschläger, L. (2015). DFB drillt seine Schiedsrichter für die Rückrunde [Online-Version]. Welt. Zugriff am 29.06.2016, http://www.welt.de/sport/fussball/article136532589/DFB-drillt-seine-Schiedsrichter-fuer-die-Rueckrunde.html.

Hogan, R. & Hogan, J. (2001). Assessing leadership: A view from the dark side. International Journal of Selection and Assessment, 9, 12-23.

Mascarenhas, D. R. D., Collins, D. & Mortimer, P. (2002). The art of reason versus the exactness of science in elite refereeing: Comments on Plessner and Betsch (2001). Journal of Sport & Exercise Psychology, 24, 328-333.

Pekrun, R. (1996). Geschichte von Differentieller Psychologie und Persönlichkeitspsychologie. In K. Pawlik (Hrsg.), Grundlagen und Methoden der Differentiellen Psychologie (S. 83-123). Göttingen: Hogrefe.

Plessner, H. & Betsch, T. (2001). Sequential Effects in Important Referee Decisions: The Case of Penalties in soccer. Journal of Sport & Exercise Psychology, 23, 254-259.

Rullang, C., Emrich E. & Pierdzioch, C. (2015). Mit Zuckerbrot und Pfeife – Die Bedeutung unterschiedlicher Autoritätsformen im Rollenselbstbild von Schiedsrichtern (With a Carrot and a Whistle – The Importance of Different Forms of Authority in the Role Self-Perception of Referees). Sport und Gesellschaft – Sport and Society, 12(3), 215-239.


Hinweis  

Wie alle Inhalte dieser Seite ist auch dieser Inhalt urheberrechtlich geschützt. Urheberrechtsverstöße werden verfolgt. Alle Inhalte sind jedoch für die Anwendung in der Praxis gedacht. Die Weiterverwendung ist für Schiedsrichterlehrwarte und Interessierte unter vollständiger Quellenangabe daher möglich und erwünscht.

Kontaktieren Sie im Zweifel bitte den Verfasser (schirilogie@gmail.com).

Nachspielzeit (19. Spieltag): Ein Spiel hat 90 Minuten. Mindestens.

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Ein durch Schalkes Verteidiger vereitelter Siegtreffer in München, ein um nur wenige Zentimeter aberkannter Ausgleichstreffer in Dortmund und ein geglückter Lucky Punch in Augsburg - und all das in letzter Sekunde: Die Nachspielzeiten dieses Spieltags hatten es teilweise in sich. Grund genug, in der 2. Ausgabe der „Nachspielzeit“ eben genau diese unter die Lupe zu nehmen und eine aktuelle Forschungsarbeit zu dem Thema zu beleuchten.


Der Satz „Ein Spiel hat 90 Minuten“ taugt zwar zweifelsohne für das Doppelpass-Phrasenschwein, führt bei vielen Schalkefans aber vermutlich eher zu einem müden Lächeln. Denn manchmal sind es auch 94 Minuten, wie z. B. im legendären Meisterschaftsfernduell zwischen dem FC Bayern und dem S04 im Jahr 2001.

Daher wäre es nicht verwunderlich, wenn bei manchem Schalker böse und schmerzliche Erinnerungen aufkamen, als Schiedsrichter Marco Fritz (Korb) die Partie bei den Bayern einfach nicht abpfeifen wollte. Selbst dann nicht, nachdem Matija Nastasic den Ball im letzten Moment vor dem heraneilenden Koman ins Aus befördern konnte.

Zuvor hatte das in der 1. Halbzeit noch abwechslungs- und ereignisreiche Spiel deutlich an Fahrt verloren. Angesichts üblicher Wechselvorgänge und kleinerer Unterbrechungen entschied sich der Unparteiische im 2. Abschnitt nachvollziehbarerweise für eine vergleichsweise geringe bis moderate Nachspielzeit von zwei Minuten.

Gemäß der Spielregeln müssen Schiedsrichter verlorengegangene Zeit durch eine Nachspielzeit kompensieren, u.a. im Falle von Auswechselungen, Verletzungen, Disziplinarmaßnahmen oder Zeitschinden.


Wissenswertes zur Nachspielzeit

·       Die Länge der anzuzeigenden Nachspielzeit liegt im Ermessensbereich des Schiedsrichters.

·       Als Richtwert gibt die UEFA bspw. 30 Sekunden bzw. 1 Minute Zuschlag für „normale“      
      Vorgänge wie z. B. Wechsel oder Tore an. Bei außergewöhnlich langen Vorgängen sollte die 
      exakte Summe der verlorenen Sekunden nachgespielt werden.

·       Die Nachspielzeit, die der Schiedsrichter durch seinen 4. Offiziellen anzeigen lässt, ist dabei
      stets eine Minimalgrenze: Das Spiel darf folglich erst nach der angezeigten Nachspielzeit      
      abgepfiffen werden.

·      Ein Maximum ist die angezeigte Nachspielzeit allerdings nicht. Sie darf und sollte im Falle     
      weiterer Unterbrechungen während der laufenden Nachspielzeit ausgeweitet werden. Ein    
      Spiel hat somit nicht 90, sondern 90+X+Y Minuten, wobei X = die festgelegte Nachspielzeit
      und Y = die Zeit ist, die während der laufenden Nachspielzeit durch Unterbrechungen
      verloren geht.

·     Die Nachspielzeit wird nicht durch den 4. Offiziellen festgelegt. Sie ist auch keine
     "Empfehlung" des 4. Offiziellen, wie einige Kommentatoren irrtümlich behaupten.
      Der Schiedsrichter legt sie fest.


Punkt 4 kam hier zum Tragen. Fast genau zum Ende der regulären Spielzeit prallten Bayern-Verteidiger Mats Hummels und Schalkes Benedikt Höwedes mit den Köpfen zusammen und benötigten medizinische Behandlung. Diese beanspruchte insgesamt zwei Minuten und fand auf dem Spielfeld statt, so dass das Spiel während der Zeit nicht fortgesetzt werden konnte.

Marco Fritz weitete die Nachspielzeit daraufhin aus und hat das Spiel – sicher in Abstimmung mit dem 4. Offiziellen – deshalb erst nach 90+4:20 Minuten abgepfiffen, was die Schalker Seele sicher noch einige Momente zittern ließ, aber absolut regelkonform war.

Ähnlich verhielt es sich wenige Stunden später in Dortmund. Schiedsrichter Tobias Stieler (Hamburg) wählte nach intensiven 90 Minuten, in denen die Borussen wiederholt einige Sekunden von der Uhr verstreichen ließen, eine Nachspielzeit von drei Minuten. Als sich diese ihrem Ende näherte (bei 90+2:50), sah Dortmund-Angreifer Aubameyang eine Gelbe Karte wegen Zeitschindens (Ballwegschießen) im Zuge eines Freistoßes für Leipzig. Diese Zeit hat Stieler selbstverständlich „obendrauf gepackt“ und den Leipzigern die Ausführung des Freistoßes und einen letzten Angriff ermöglicht – der zum vorübergehend umjubelten Ausgleichstreffer führte. Allein das notwendige Quentchen Glück und gute Auge des Schiedsrichterassistenten Sascha Thielert, der die vermutlich vorliegende, hauchdünne Abseitsstellung von Palacios erkannt hatte, machten dies zunichte (angemerkt sei, dass die Bilder durch die verzerrte Kameraperspektive nicht 100% klären können, ob er damit richtig oder falsch lag - auf jeden Fall rettete er damit seinem Chef, dessen übersehener Eckstoß vor der Abseitssituation von Tuchel und Co. im Falle eines 1:1 vermutlich medial wirksam ausgeschlachtet worden wäre, damit den Allerwertesten.).

Den Schlusspunkt machte in diesem Zusammenhang die Partie Augsburg gegen Bremen. Mit einem 2:2 hätten beide Seiten vermutlich gut leben können. In der 2. Minute der Nachspielzeit wechselten die Werderaner noch einmal aus, wodurch etwa 35 Sekunden verstrichen. Schiedsrichter Dingert (Lebecksmühle) hatte drei Minuten Nachspielzeit signalisieren lassen und durchaus die Gelegenheit, nach exakt 180 Sekunden abzupfeifen, da sich der Ball zu dem Zeitpunkt in der neutralen Zone befand. Er hat es nicht getan und stattdessen den Augsburger Angriff durch Bobadilla, der letztlich zum Torerfolg führte, korrekterweise zugelassen. Der Augsburger Stürmer scheint bei dem Pass allerdings hauchzart im Abseits gestanden zu haben, was für den Assistenten durch gegenläufige Bewegungen und dem sog. "Reverse Flash Lag Effect" (bald mehr dazu) aber verdammt schwierig zu sehen war.

Die drei Spiele verdeutlichen noch einmal: Nachspielzeiten können Spiele maßgeblich beeinflussen oder gar entscheiden, weshalb sich Schiedsrichter um eine passende Anzahl der nachzuspielenden Minuten sowie eine konsistente Ausweitung der Nachspielzeit bei Spielunterbrechungen, die während ihr auftreten, bemühen sollten.


Werden höher positionierte Teams bei der Nachspielzeit bevorteilt?

Manch einer könnte nun behaupten: Egal ob berechtigt oder unberechtigt - Schiedsrichter lassen doch einfach immer so lang spielen, bis Bayern, Leipzig oder per se das bessere, höherklassige oder reputiertere Team den Sieg- oder Ausgleichstreffer erzielt hat. 

Der spanische Sportwissenschaftler Carlos Lago-Peñas und seine Kollegin Maite Gómez-López haben sich der Klärung dieser Frage angenommen und dazu Daten aus der La Liga Saison 2014/15 zusammengetragen. Konkret vermuteten sie zwei Effekte.

Zum einen nahmen die Autoren an, dass die Höhe der Nachspielzeit vor allem von der Tordifferenz zwischen beiden Teams – also dem Spielstand – abhängt. Demnach sollten Schiedsrichter in engen Spielen (z. B. bei einem Stand von 1:0 oder 1:1) zu höheren Nachspielzeiten neigen als in Spielen, die zum Ende der regulären Spielzeit mit einem hohen Torabstand bereits entschieden waren (z. B. ein 3:0 für das Heimteam). Zum anderen vermuteten sie eine systematische Bevorteilung von höherklassifizierten Teams (also Mannschaften, die zum Zeitpunkt des Spiels in der Tabelle höher positioniert waren): Demzufolge – so die Hypothese – sollten Schiedsrichter in engen Spiel dann mehr Minuten nachspielen lassen, wenn das höherklassige Team zurückliegt, und weniger Minuten nachspielen lassen, wenn das höherklassige Team führt.

Die Ergebnisse der Forscher unterstützten beide Hypothesen. Der Zusammenhang zwischen der Tordifferenz bzw. dem Spielstand und der Höhe der Nachspielzeit ließ sich durch eine umgekehrte U-Funktion beschreiben   (s. Abbildung).

Abb.: Ungefährer Zusammenhang zwischen Tordifferenz und Nachspielzeit

Dies kann intuitiv dadurch erklärt werden, dass in entschiedenen Spielen a) niemand eine Nachspielzeit will und b) höhere Nachspielzeiten die Gefahr bergen, dass es zu unerwünschten Effekten wie Frustfouls und einem dadurch höheren Verletzungsrisiko für die führende Mannschaft kommt.

Aus Schiedsrichtersicht bestätigte sich leider auch die zweite Annahme der Autoren: Unparteiische vergaben dann deutlich mehr Nachspielzeit, wenn in der Tabelle höher positionierte Teams zurücklagen, als wenn diese führten. Diese Unterschiede wurden statistisch signifikant, d.h. die Wahrscheinlichkeit, dass dies auf den Zufall zurückgeführt werden kann, ist extrem klein.

Die einfachste Interpretation des letztgenannten Befundes lautet: Schiedsrichter favorisieren größere Teams. Studien, die das oder Ähnliches nahelegen, existieren zuhauf (z.B. Boyko, Boyko & Boyko, 2007; Feess, Müller & Bose, 2016). Allerdings eint sie eine Schwäche: Logische Alternativerklärungen blieben überwiegend unbeleuchtet.

Es könnte nämlich sein, dass schwächere Teams grundsätzlich mehr Anstalten machen, ihren knappen Vorsprung über die Zeit zu bringen und zu diesem Zweck - gerade angesichts der bekannten Taktiken spanischer Teams - auch auf Methoden des Zeitschindens zurückgreifen. Dies könnte durch Schiedsrichter vermehrt mit einer höheren Nachspielzeit bestraft worden sein. Demgegenüber haben es die höher gerankten Teams womöglich nicht nötig, ihren eigenen knappen Vorsprung mit Hilfe von Unsportlichkeiten oder zweikampfbetonter Spielweise ins Ziel zu bringen: Stattdessen erscheint es logisch, dass diese Teams den Ball sicherer in den eigenen Reihen halten, was keinen Effekt auf die Nachspielzeit hätte. Ob eine Berücksichtigung solcher Alternativinterpretationen etwas an den Ergebnissen der spanischen Studie ändern würde, kann an dieser Stelle natürlich nicht überprüft werden.

Für das vergangene Wochenende gilt in jedem Fall: In puncto Nachspielzeit war in München, Dortmund und Augsburg alles in Ordnung.


Rückblick

Letzte Woche stand das Thema "Die richtigen Spieler im Auge behalten" im Fokus der 'Nachspielzeit'. Je ein Positivbeispiel und ein Negativbeispiel ereigneten sich gestern im Spiel Frankfurt gegen Darmstadt...


Literatur

Boyko, R. H., Boyko, A. R., & Boyko, M. G. (2007). Referee bias contributes to home advantage in English premiership football. Journal of Sports Sciences, 25(11), 1185–1194.

Feess, Müller & Bose (2016). Does status leads to biased judgments? Evidence from professional soccer. Unveröffentlichtes Paper.

Lago-Peñas, C. & Gómez-López, M. (2016). The Influence of Referee Bias on Extra Time in Elite Soccer Matches. Perceptual and Motor Skills, 122(2), 666-677.

Lehreinheit Nr. 2: Führungsfigur Fußballschiedsrichter - Über Nähe, Distanz und Balance in der Spielleitung

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Fußballschiedsrichter sind Führungspersonen auf dem Fußballplatz. Von ihnen wird erwartet, Spieler und Teamoffizielle zu führen, Autorität auszustrahlen und die nötige Akzeptanz ihrer Entscheidungen und Person herbeizuführen. Doch wie kann dies gelingen? Wovon hängt es ab, wie ich als Schiedsrichter führe, welchen Stil ich wähle? Diesen Fragen widmet sich die Lehreinheit Nr. 2 unter Mitarbeit von Alex Feuerherdt, Lehrwart im Fußballkreis Köln und Mitbetreiber des Schiedsrichter-Podcasts Collinas Erben.

Schiedsrichter führen die Spieler nicht nur auf das, sondern auch auf dem Spielfeld


Vorüberlegungen 

Eine Auseinandersetzung mit dem Thema Führung im Zusammenhang mit Fußballschiedsrichtern ist aus mehreren Gründen relevant und nötig.

1. Rolleninterpretation als Spielleiter

Wie in der Lehreinheit Nr. 1 gezeigt wurde, erstreckt sich eine gelungene Schiedsrichterleistung nicht nur auf die reine Anwendung des geltenden Regelwerks, sondern vielmehr auch auf Aspekte der Regelauslegung und des Game-Managements. Demnach interpretieren Fußballschiedsrichter ihre Rolle als die eines Spielleiters. Überfachliche Qualitäten, die Schiedsrichter in ihrer Tätigkeit unterstützen, verdienen daher besondere Beachtung.

2. Definition von Führung

Führung ist die "bewusste und zielbezogene Einflussnahme" auf Personen (von Rosenstiel, 2009). Diese prägnante Definition von Führung trifft ziemlich genau den Kern dessen, was Schiedsrichter über die reine Regelanwendung hinaus leisten müssen: Sie koordinieren die auf dem Platz bestehenden sozialen Interaktionen auf ein übergeordnetes Ziel hin, wie z.B. Fairplay sicherzustellen oder die Gesundheit der Spieler zu schützen. Dabei hilft ihnen ihre per Regelbuch verliehene Weisungsbefugnis und nahezu uneingeschränkte Entscheidungs- und Handlungsgewalt. Hier zeigen sich bereits Parallelen zu Führungskräften im betrieblichen Kontext.

3. Amtsautorität zählt heute weniger

Mit Weisungsbefugnis allein ist es allerdings - ähnlich wie in Unternehmen - nicht getan. Die Zeiten, in denen Schiedsrichter ausschließlich durch ihre formale Amtsautorität als Verbandsvertreter Respekt und Anerkennung genossen haben, sind vorbei. Die nötige Akzeptanz müssen sich Schiedsrichter heute über ihre persönlichen Qualitäten mehr und mehr verdienen, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass jüngere Generationen von Autoritäten getroffene Entscheidungen in allen Teilen der Gesellschaft stärker hinterfragen. Moderne Spielleitungen erfordern daher wirkungsvolle Führungsqualitäten.

4. Führungsqualitäten als Wettbewerbsvorteil

Der Professionalisierungsgrad im Schiedsrichterwesen hat über die letzten Jahre enorm zugenommen, und zwar nicht nur auf höchster Ebene. Webbasierte Tools, in denen bspw. Spiele und strittige Situationen nachträglich in Coachings analysiert werden können, gehören ab einem gewissen Spiellevel heute ebenso zur Tagesordnung wie künftig der Videobeweis im Profifußball, der im Idealfall dazu beitragen kann, dass sich die Entscheidungsqualität in schwierigen Situationen zwischen unterschiedlichen Schiedsrichtern angleicht. Auch im Bereich Fitness herrscht heute eine relativ hohe Leistungsdichte. Wenn viele Bereiche schiedsrichterlicher Exzellenz qualitativ immer gleicher werden, so verbleiben im Umkehrschluss nur wenige Bereiche, die dadurch umso erfolgskritischer werden und ins Gewicht fallen.

Dies gilt insbesondere für Aspekte der Spielleitung, Persönlichkeit und Führung. Gut führen zu können, sich kraft der eigenen Persönlichkeit Akzeptanz zu verschaffen und ein Spiel gut zu "managen", hat also das Potenzial eines "Wettbewerbsvorteils", der sehr gute Schiedsrichter von guten Schiedsrichtern unterscheidet.


Verschiedene Betrachtungsebenen 

Da es sich bei personaler (bzw. schiedsrichterlicher) Führung um ein komplexes Feld handelt, existieren für eine nähere Betrachtung mehrere Ansatzpunkte. Diese werden im Folgenden dargestellt und auf den Schiedsrichterbereich übertragen.


Führungsperson

Die personenbezogene Betrachtung von Führung versucht die Frage zu beantworten, welche Eigenschaften eine gute Führungsperson besitzen sollte. Wichtige Aspekte hierbei sind:

Die Persönlichkeitsstruktur

Metaanalysen - das sind Studien, die die Ergebnisse von einer Vielzahl vorheriger, inhaltsähnlicher Studien zusammenfassen - zeigen: Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale korrelieren mit Führungserfolg. Demnach kennzeichnet gute Führungspersonen vor allem Extraversion, Gewissenhaftigkeit und emotionale Stabilität (Judge, Bono, Ilies & Gerhardt, 2002).

Persönliche Erfahrungswerte

Nicht zu unterschätzen ist auch die Bedeutung persönlicher Erfahrungswerte. Hat bspw. ein Schiedsrichter die Erfahrung gemacht, dass er mit einem eher strengen Auftreten mehrheitlich bessere Resultate erzielt, so wird er sich wahrscheinlich auch künftig für einen solchen Stil entscheiden. Dass hierbei auch Risiken bestehen, wird später thematisiert.

Charismatische Führung

Ein Sonderfall der Führungsforschung ist die sog. charismatische Führung. Charisma ist schwierig zu definieren, wird aber weithin als eine außeralltägliche Qualität einer Persönlichkeit mit übermenschlichen, nicht jedem zugänglichen Kräften aufgefasst (vgl. Weber, 1947). Charismatische Führung erzeugt bei Geführten vor allem Respekt und Vertrauen. Populäre Beispiele für charismatische Schiedsrichter sind u.a. Pierluigi Collina, Howard Webb, Nicola Rizzoli oder Mark Clattenburg. Das Problem bei charismatischer Führung ist: Entweder man hat Charisma oder man hat es nicht. Man kann es nicht wirklich erlernen und umso weniger greifen.

Grundsätzlich hat die Führungsforschung über die letzten Jahrzehnte erkannt, dass eine Betrachtung der Führungsperson allein nicht ausreicht, um den Bereich der Führung zufriedenstellend zu beschreiben.


Führungsverhalten

Das leitende Ziel der verhaltensbezogenen Betrachtungsebene lautet: Welches Verhalten ist das richtige, um Führungserfolg zu erzielen?

Hier spielen vor allem Führungsstile eine Rolle. Entsprechende Konzepte existieren in der Personalpsychologie seit Jahrzehnten. Häufig kennzeichnet sie eine Trennung von mitarbeiterorientierten sowie aufgabenorientierten Ausrichtungen.

Überträgt man die in der Führungs- und Erziehungsforschung etablierten Stile auf den Schiedsrichterkontext, so ergeben sich folgende Schiedsrichterstile:

Autoritärer Stil (der 'Diktator'): Führungspersonen, die autoritär führen, zeigen wenig bis keine emotionale Nähe zu ihren Geführten. Es herrschen klare Erwartungen und Vorgaben. Autoritäre Schiedsrichter zeigen daher eine strikte und klare Linie, die sie konsequent einhalten. Empathie und interpersonale Nähe spielen hier keine Rolle. Es geht ausschließlich darum, Autorität auszustrahlen, Kontrolle auszuüben und durch hartes Durchgreifen - quasi als Richter Gnadenlos - für Gehorsam zu sorgen. Dies wird durch eine strenge, energische und tendenziell negative (im Sinne von "unnahbare") Körpersprache unterstützt. Dieser Stil wirkt sich im beruflichen Kontext in der Regel negativ auf die Zufriedenheit und Akzeptanz der Geführten aus, hat allerdings nicht zwingend schädliche Auswirkungen auf den Führungserfolg.

Autoritativer Stil (der 'Gleichgewichtskünstler'): Führungspersonen, die autoritativ führen, kennzeichnet zwar ebenfalls eine deutliche Regelgeleitetheit und Kontrollausübung, aber auch Elemente der Empathie und interpersonalen Nähe. Neben einer moderaten Linie, die sowohl durchgreifend, als auch Spielräume zugestehend wahrgenommen wird, und dem Einfordern von Akzeptanz zollen autoritative Schiedsrichter den Spielern Respekt, drücken ihre generelle Wertschätzung aus und bewegen sich auch auf kommunikativer Ebene. Unterstützt wird dieser Balanceakt zwischen Milde und Strenge, zwischen Distanz und Nähe durch eine empathische, aber dennoch energische Körpersprache. Hierbei sind sowohl positive Leistungseffekte als auch positive Auswirkungen auf die Geführtenzufriedenheit und -akzeptanz zu erwarten.

Kooperativer Stil (der 'Spielerfreund'): Schiedsrichter, die kooperativ führen, präsentieren sich eher als (Ansprech-)Partner und Freund der Spieler, der ihnen Freiräume durch eine lange Leine zugesteht und emotional "nah dran" ist. Dies bedeutet allerdings nicht, dass potentielle Vergehen nicht geahndet würden. Allerdings kennzeichnet kooperative Schiedsrichter eine eher großzügige Linie, die auf Ermahnungen statt auf schnelle Verwarnungen setzt. Unterstützt wird dies durch eine offene, positive Körpersprache. Dieser Stil wirkt sich in der Führungsforschung vor allem positiv auf die Zufriedenheit und Akzeptanz der Geführten aus.

Laissez-faire-Stil ('Der Passive'): Führen, ohne zu führen. Dies meint der sog. Laissez-faire-Stil. Prävention und Intervention spielen hier keinerlei Rolle. Die Führungsperson wird kaum bis gar nicht aktiv und verbleibt in einer passiven Rolle. Dieser Stil weist mit Abstand die schädlichsten Auswirkungen auf Führungseffektivität und -erfolg aus (vgl. Judge et al., 2002) und sollte von Schiedsrichtern zu keiner Zeit gewählt werden.



Bei den dargestellten Stilen handelt es sich um Typologien, d.h. Extremausprägungen, die natürlich so 1zu1 nicht exakt vorliegen müssen. Stattdessen können Schiedsrichter Elemente von mehreren Stilen in ihrer Spielleitung vereinen oder sich zwischen zwei Stilen bewegen, also gewissermaßen ein Punkt irgendwo auf dem Koordinatensystem sein.


Führung wird durch Aspekte der Kommunikation, Körpersprache und räumlichen Nähe unterstützt ...


Sonderfall Symbolische Führung: Symbolische Führung meint, dass eine Führungsperson durch gezielte, eine Signalwirkung besitzende Handlung Fakten schafft und dadurch symbolhaft das Verhalten der Geführten beeinflusst. Ein Beispiel aus der Berufswelt wäre z. B. ein DAX-Vorstand, der im Frankfurter Konzerntower seine Büroräume natürlich nicht in der 1., sondern in der obersten Etage hat und somit das Hierarchie- und Autoritätsempfinden seiner Geführten beeinflusst. Im Schiedsrichterbereich zeigen sich solche Muster besonders dann, wenn spiellenkende Entscheidungen mit präventivem Signalcharakter getroffen werden, also z. B. dann, wenn der Schiedsrichter bei einem knappen Spielstand die ersten Anflüge von Zeitschinden frühzeitig sanktioniert und somit die Message "Zeitschinden wird nicht toleriert" an alle Spieler sendet.

Die Wahl des Stils zeigt sich u.a. in

- dem Ausmaß von Nähe bzw. Distanz zu den Spielern auf interpersonaler Ebene
- der Körpersprache (empathisch, energisch ...)
- der gewählten Linie (Milde vs Strenge)
- dem Ausmaß der Spielkontrolle
- der Außenwirkung
- dem Grad der Akzeptanz durch die Spieler, Teamoffiziellen und Zuschauer

Aber wovon hängt die Wahl des Stils überhaupt ab? Wovon sollte sie abhängen?

Die Führungsforschung beantwortet die Frage, welcher Stil der richtige ist, wie folgt:

Es kommt drauf an! 

Gefragt sind demnach Führungspersonen, die ihren Stil flexibel an bestimmte oder sogar veränderte Personen- und Situationsanforderungen anpassen können. Konkret geht es also darum, die gesamte Klaviatur der oben dargestellten Stile (mit Ausnahme des Laissez-faire-Stils) zu beherrschen, den zur Situation passenden Stil zu wählen sowie eine angemessene Balance zwischen empathischer Nähe und energischer Autorität je nach Situation und Spieler herzustellen. 


Personen- und Situationsanforderungen

Das sog. Rahmenmodell personaler Führung veranschaulicht die komplexen Zusammenhänge zwischen Führungsperson, Führungsverhalten sowie Situations- und Personenanforderungen.



Das Modell zeigt:

1. Das Führungsverhalten hängt von den Eigenschaften der Führungsperson ab.

2. Das Führungsverhalten bestimmt das Verhalten der Geführten - und umgekehrt.

3. Das Geführtenverhalten bestimmt den Führungserfolg.

4. Führungserfolg ist schwierig zu erfassen, kann sich aber bspw. in der Akzeptanz der Geführten oder einem hohen Kontrolllevel zeigen.

5. All diese Zusammenhänge hängen jedoch von der Führungssituation ab. Sie wirken in unterschiedlichen Situationen also auf unterschiedliche Art und Weise.

Das heißt für die Praxis:

1. Situationsangemessen führen.

2. Personenangemessen führen.

3. Persönliche Einstellungen, Vorlieben und Erfahrungswerte nicht über die Bedarfe der Situation und Geführten stellen.

4. Flexibel sein und den eigenen Führungsstil an situative Gegebenheiten anpassen, ohne unberechenbar zu werden.

Idealerweise verfügt ein Schiedsrichter hinsichtlich seines Stils also über ein breites Repertoire, das er sowohl personen- als auch situationsbezogen, also flexibel anzuwenden versteht. Hierbei spielt auch der Hintergrund eines Spiels (man denke an Revierderbies) und der der Spielkontext (z. B. der Zeitpunkt im Spiel) eine Rolle.

In einem brisanten Derby kann ein autoritäres Auftreten von Beginn an für die nötige Ruhe und Akzeptanz sorgen. In einem Freundschaftsspiel kann es dagegen durchaus ratsam sein, den Spielern zunächst eine lange Leine und somit gewisse Freiheitsgrade einzuräumen - um dann aber z. B., wenn nötig, seinen Stil an härtere Vergehen anzupassen und mehr Strenge zu zeigen.

Es geht darum, situationsangemessen zu führen - und manchmal auch hart durchzugreifen


Auch der jeweils aktuelle Spielabschnitt ist entscheidend: Wie energisch ein Schiedsrichter durchgreift, hängt beispielsweise davon ab, ob gerade die 10. oder 80. Minute läuft. Dies zeigt sich u.a. darin, dass zu Beginn eines Spiels im Schnitt weniger Gelbe Karten ausgesprochen werden, als es statistisch zu erwarten wäre (Unkelbach & Memmert, 2008).

Welcher Schiedsrichterstil passend ist, hängt aber auch davon ab, mit welchen Spielertypen es der Schiedsrichter überhaupt zu tun hat. Um dies richtig einschätzen zu können, benötigt er sowohl ein sehr gutes Spielverständnis als auch eine überdurchschnittliche Menschenkenntnis. In jedem Team können sich völlig unterschiedliche Charaktere finden, die auch eine unterschiedliche Art des Umgangs und der Ansprache benötigen. Der Schiedsrichter muss herausfinden, mit welchen Typen er es zu tun hat und welcher Zugang der sinnvollste ist.

Das Alphatier ist anders zu erreichen als der Mitläufer, das ewige Opfer anders als der (vermeintlich) Verständnisvolle, der Routinier anders als der Novize, der Emotionale und vielleicht etwas Hinterhältige anders als der Ruhige und Faire. Die Herausforderung für den Unparteiischen wird dadurch noch größer, dass die verschiedenen Charaktere in unterschiedlichen Spielphasen auch noch einmal anders auftreten können.

Hier stilistisch nicht nur angemessen zu reagieren, sondern möglichst präventiv und steuernd zu wirken, ist geradezu eine Kunst. Das starre Festhalten an einem Stil ist nicht sinnvoll, wichtig sind demnach vor allem Flexibilität und die Fähigkeit zur Balance.

Im Spiel selbst bedeutet das, seinen Stil nach den Erfordernissen auszurichten, die man vorfindet, sowohl in Bezug auf die Partie und ihren Verlauf als auch hinsichtlich der Spieler. Die Fragen lauten stets:

- Was muss ich tun, um die Begegnung in fairen Bahnen zu halten und die Balance zu wahren?
- Wer benötigt wann eher Strenge, wer Empathie?
- Welche Innen- und Außenwirkung hat mein Stil?
- Wann muss ich die Leine kurz halten, wann kann ich mehr Spielräume gewähren?
- Wie wirkt sich diese oder jene Entscheidung oder Ansprache auf das Spiel selbst und die Akteure aus?
- Wie kann ich kritische Entscheidungen durchsetzen und vermitteln?

Führungstheorien, z. B. die situative Führungstheorie von Hersey & Blanchard (1977), widmen sich genau diesen Fragen und versuchen zu erklären, wie in welcher Situation geführt werden sollte. Aus diesen Konzepten und aufbauend auf den zuvor entwickelten Schiedsrichterstilen ergibt sich das folgende Modell:



Die gelbe Linie veranschaulicht, welcher Stil bei welchem Ausmaß an Spiel- und Situationsanforderungen idealerweise gewählt werden sollte. Die gestrichelte, graue Linie zeigt beispielhaft, welcher Stil bzw. welches Ausmaß an Nähe oder Distanz bei mittleren bis mittelhohen Spiel- und Situationsanforderungen ratsam erscheint.

Sind die Anforderungen eher komplex (z. B.: problematischer Spieler, brisante Phase im Spiel, aufgeheizte Stimmung...), erscheint ein autoritäreres Auftreten mit erhöhter interpersonaler bzw. emotionaler Distanz tendenziell - aber womöglich nicht immer - passend. Bewegt sich ein Spiel in ruhigen und fairen Wogen, so kann der Schiedsrichter durchaus laufen lassen und die Beziehungsebene stärker in den Vordergrund seiner Spielleitung rücken.

Wenn erste härtere Vergehen auftreten, so kann sich ein Schiedsrichter zunehmend autoritativen Elementen bedienen (eine Steigerung von diskreten bis hin zu deutlicheren, öffentlich sichtbaren Ermahnungen, die durchaus auch Beziehungsaspekte thematisieren können, ist hier unter Umständen empfehlenswert - es sei denn, es handelt sich z. B. um ein zwingend verwarnungswürdiges Vergehen).

Natürlich ist dieses Modell - wie jedes Modell - nicht perfekt und nicht für jedes Spiel und jede Situation passend. Es soll daher nicht als generelle Aussage verstanden werden. Sogar innerhalb derselben Situation kann eine Variation je nach Spieler sinnvoll sein. Das Modell veranschaulicht jedoch einige wichtige Aspekte:

1. Schiedsrichter sollten nie zu viel Nähe zulassen, sondern eine gewisse unparteiliche Distanz wahren.

2. Gleichzeitig würde ein Fehlen jeglicher Nähe bedeuten, dass Schiedsrichter Interaktionen mit Spielern komplett meiden. Eine gewisses Mindestmaß an interpersonaler Nähe ist also erforderlich.

3. Schiedsrichter sollten - wie oben bereits erwähnt - nie nicht führen.

4. Bei geringen Spiel- und Situationsanforderungen kann auf die Beziehungsebene, also empathische Nähe, gesetzt werden - u.a. auch dann, wenn um erste Ermahnungen geht.

5. Ab einer gewissen Komplexität der Spiel-, Spieler- und Situationsanforderungen sollten zunehmend autoritäre Elemente in die Spielleitung integriert werden, u.a. im Bereich Kommunikation und Körpersprache.

6. Erst bei sehr hoher Komplexität sollten Schiedsrichter die Beziehungsebene verlassen und mit der gebotenen Distanz, Durchsetzungsstärke und energischen Strenge auftreten, dabei aber nie die Verbindung zu den Spielern komplett aufgeben.

Insgesamt spiegelt das Modell nochmals die Hauptbotschaft dieser Lehreinheit wider:

Schiedsrichter müssen situations-, spiel- und personenangemessen führen und die richtige Balance zwischen empathischer Nähe und autoritärer Distanz herstellen.


Implikationen - Was bedeutet das alles?

1. Fußballschiedsrichter sollten sich von der Idee lösen, jedem Spiel ihren immer gleichen Stempel aufzudrücken. Es kommt dagegen mehr darauf an, eine klare, auf das Spiel zugeschnittene Linie vorzugeben, gewisse Spielräume zuzulassen, sich aber wenn nötig den Gegebenheiten des Spiels, der Situation und der Spielertypen angemessen anzupassen. Wichtig ist dabei, die Balance zu wahren und berechenbar zu bleiben. Angemessene Botschaften sollten mit der nötigen Signalwirkung gesendet werden - vor allem dann, wenn es um einschneidende Momente wie die erste mündliche Ermahnung oder gar die Einstiegsverwarnung geht.

2. Im Vorfeld des Spiels sollten Schiedsrichter - ggf. in Abstimmung mit ihrem Coach - einen Spielplan entwickeln. Denn die Spielvorbereitung ist mit Blick auf die Wahl des adäquaten Führungsstils ausgesprochen wichtig. Wenn der Schiedsrichter die Mannschaften bereits kennt, wird er über Erfahrungswerte verfügen, die es ihm erleichtern, den jeweils passenden Stil zu finden; ansonsten können Videoaufzeichnungen (falls vorhanden), Gespräche mit anderen Referees und in einem gewissen Rahmen auch das Studium der Medien weiterhelfen. Allerdings sollten sich Schiedsrichter darauf nie völlig verlassen: Jedes Spiel ist anders und hat seine ganz eigene Geschichte. Einen gewissen Basisstil vorzugeben und auf Lager zu haben ist zwar schon viel wert und in jedem Fall besser, als komplett unvorbereitet in ein Spiel zu gehen. Die Zeichen der Zeit zu erkennen und den Stil - sowohl nach oben als auch nach unten - entsprechend kalibrieren zu können, ist jedoch umso entscheidender.

3. Die Aufgabe von Schiedsrichterfunktionären besteht darin, ihre Referees mit den nötigen interpersonalen Skills auszurüsten, die die verschiedenen Schiedsrichterstile erfordern. Dazu zählen vor allem kommunikative Kompetenzen auf verbaler und non-verbaler Ebene. Hinzu kommt eine intensive Begleitung im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung, die gerade in höheren Ligen von Psychologen übernommen werden sollte.

4. Für die Rekrutierung von Schiedsrichterneulingen empfiehlt es sich zudem, medial stärker auf führungsbezogene Aspekte der Spielleitung einzugehen. Auf dem Platz lernen Schiedsrichter schließlich unschätzbar wertvolle Kompetenzen, die sich auch im Zuge von Job Interviews und späteren Berufsleben überaus gut machen. Denn wer in dem einen von sozialen Interaktionen geprägten Job als Schiedsrichter mit situationsangemessenen Führungsqualitäten überzeugen kann, der kann dies - wie Studien zeigen (Brand & Neß, 2004) - auch in höheren beruflichen Positionen. Statt mit freiem Eintritt in Bundesligastadien zu locken, sollte die Figur des Schiedsrichters somit vielmehr als eine Gelegenheit vermarktet werden, seine eigenen Soft Skills zu schärfen und auszubauen.

5. Für jeden einzelnen Schiedsrichter bedeutet dies, sich selbst, den eigenen Schiedsrichterstil, die eigene Anpassungsfähigkeit (Adaptabilität) und die eigene Spielvorbereitung zu hinterfragen.

Die Zeiten, in denen man als Schiedsrichter erst mal alles einfach auf sich zukommen ließ, sind schließlich vorbei – nicht nur im Profibereich!

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Literatur

Brand, R. & Neß, W. (2004). Regelanwendung und Game-Management – Qualifizierende Merkmale von Schiedsrichtern in Sportspielen. Zeitschrift für Sportpsychologie, 11(4), 127-136.

Judge, T. A., Bono, J. E., Ilies, R., & Gerhardt, M. W. (2002). Personality and leadership: A qualitative and quantitative review. Journal of Applied Psychology, 87(14), 765-780.

von Rosenstiel, L. (2009). Grundlagen der Führung. In L. von Rosenstiel, M. Domsch & E. Regnet (Hrsg.), Führung von Mitarbeitern (6. Aufl., S. 3-27). Stuttgart: Schäffer-Poeschel.

Rullang, C., Emrich E. & Pierdzioch, C. (2015). Mit Zuckerbrot und Pfeife – Die Bedeutung unterschiedlicher Autoritätsformen im Rollenselbstbild von Schiedsrichtern (With a Carrot and a Whistle – The Importance of Different Forms of Authority in the Role Self-Perception of Referees). Sport und Gesellschaft – Sport and Society, 12(3), 215-239.

Unkelbach, C. & Memmert, D. (2008). Game management, context effects, and calibration: the case of yellow cards in soccer. Journal of Sports and Exercise Psychology, 30(1), 95-109


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Nachspielzeit (DFB-Pokal): Sokratis' Doppel-Gelb - ein Spiel um Macht und Autorität

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Doppel-Gelb gegen denselben Spieler hat es in der jüngeren Bundesliga- bzw. Pokalgeschichte durchaus häufiger gegeben, zuletzt bspw. bei der Partie Ingolstadt gegen Leipzig, als Matthew Leckie für zwei verwarnungswürdige Vergehen in derselben Situation zweimal Gelb hintereinander sah. In Erinnerung blieb auch das DFB-Pokal-Viertelfinale zwischen dem FC Augsburg und dem 1. FC Köln aus dem Februar 2010: Damals gab es gleich zweimal Doppel-Gelb für fortgesetztes Meckern inkl. abfälliger Gesten gegen die Geisböcke (s. Video). Fast auf den Tag genau sieben Jahre später reiht sich nun also Dortmunds Sokratis in diese unrühmliche Serie komplett unnötiger Platzverweise ein, als Schiedsrichter Deniz Aytekin ihn in der 119. Spielminute wegen Meckerns gleich zweimal verwarnte und folglich vom Platz stellte. Ein Rückblick auf den vielleicht kuriosesten Platzverweis der laufenden Spielzeit.


Was war passiert? Sokratis bekam einen direkten Freistoß zugesprochen, wollte den Tatort aber offensichtlich noch ein bis zwei Meter näher zum Strafraum verlegen. Mehr oder minder nachvollziehbar war daher das Verhalten der Herthaner, die sich demonstrativ vor den Ball stellten und so nicht nur eine schnelle Ausführung, sondern auch ein weiteres Verschleppen des Balls verhindern wollten. Korrekterweise wies der Unparteiische Sokratis an, den Ball zwei Meter weiter zurück zu legen, woraufhin dieser auf abfällige und respektlose Art und Weise zu gestikulieren begann.

In solch eindeutigen Fällen bleibt dem Schiedsrichter keine Wahl: Protestiert ein Spieler durch Worte oder Handlungen, so ist er zwingend zu verwarnen. Unparteiische sind grundsätzlich dazu angehalten, erste Anzeichen von eindeutigen Protesten kraft ihrer Persönlichkeit und, wenn nötig, über Disziplinarstrafen aus dem Spiel zu nehmen und so weiteren Protesten vorzubeugen.

Die Gelbe Karte war somit vollkommen gerechtfertigt. Angesichts des Ausmaßes an Respektlosigkeit, das Sokratis an den Tag legte, ist es ebenfalls verständlich, dass Aytekin ihm noch einige warme Worte mit auf den Weg gab. Als Sokratis selbst auf die eindeutige Ansage und Gestik, dass er „beim nächsten Mal fliegt“, erneut mit abfälliger und höhnischer Gestik reagierte, hatte Aytekin letztlich keine Wahl und musste ihn mit Gelb-Rot herunterstellen.

Diese Entscheidung hat natürlich gerade angesichts des Spielkontexts eine begrüßenswerte Strahlkraft: Schließlich wurde das Spiel im öffentlich-rechtlichen Fernsehen frei empfangbar übertragen, genoss einen gewissen Stellenwert als Topspiel und erreichte somit ohne Zweifel eine breite Öffentlichkeit. Hier die Botschaft zu senden, dass Respektlosigkeit gegen Unparteiische nicht toleriert, sondern bestraft wird, kommt besonders den Wochenende für Wochenende aktiven Schiedsrichtern auf Amateurebene zu Gute. Eine solche top-down-verlaufende Signalwirkung vom Profifußball auf die unteren Ligen war zuletzt u.a. bei Felix Zwayers Kabinengang zu beobachten, als sich Leverkusen-Trainer Schmidt weigerte, auf der Tribüne Platz zu nehmen.


Regelkonform, aber vermeidbar?

Schiedsrichterentscheidungen kann man rückblickend grundsätzlich danach beurteilen, ob die finale Entscheidung korrekt bzw. konsistent war und welche prospektive Signalwirkung sie besaß. Wie oben ausgeführt, stellen beide Betrachtungsweisen den Platzverweis in ein überaus positives Licht.

Eine andere Betrachtungsebene beurteilt Schiedsrichterentscheidungen dahingehend, ob sie trotz regeltechnischer Korrektheit unter Umständen präventiv vermeidbar gewesen wäre und untersucht sie mit Blick auf Aktions-Reaktions-Schleifen. Dies ist gerade dann wichtig, wenn sich die Entscheidung nicht etwa auf ein alltägliches Foul bezieht, sondern sie sich eher auf der Beziehungsebene zwischen Schiedsrichter und Spieler abspielt.

Konkret könnte man allgemein fragen: War die Entscheidung seitens des Schiedsrichters präventiv vermeidbar? Hatte der Schiedsrichter einen Anteil daran, dass es so weit kam? Wie hätte sich der Schiedsrichter ggf. verhalten können, um es nicht so weit kommen zu lassen?

Aus psychologischem Blickwinkel sind diese Fragen vor allem deshalb hochinteressant, da gute Schiedsrichter sich selbst und solche einschneidenden Abläufe stets kritisch hinterfragen sollten.

Denn eines ist klar: Es kann keinesfalls der Wunsch von Aytekin gewesen sein, in der 119. Spielminute, die aus Schiedsrichtersicht brilliant verliefen, einen Spieler für eine derartige Aktion vom Platz zu stellen. Schiedsrichter möchten üblicherweise das Spiel und den Fußball in den Vordergrund stellen. Das gilt im Profifußball, wo die mediale Inszenierung deutlich mehr im Fokus steht, natürlich noch einmal mehr als auf Amateurebene.

Schließlich war das Spiel in dem Moment trotz der hohen Spannung eher davon geprägt, dass Krämpfe zunahmen, die Spielgeschwindigkeit deutlich verflachte und sich beide Teams mit dem Unentschieden nach 120 Minuten abzufinden schienen. Die Spielatmosphäre war also eher ruhig.

Schauen wir uns also den Situationsverlauf rückblickend an. Dazu können wir uns jeweils fragen, welche Handlungsmöglichkeiten sich dem Schiedsrichter zu jeweils verschiedenen Sequenzen der Situation eröffneten. Wir versetzen uns also jeweils in verschiedene Momente der Situation. Die folgenden Zeitangaben beziehen sich auf das folgende Youtube-Video.



4:47: Sokratis protestiert durch Handlungen, und zwar auf respektlose und abfällige Art und Weise. Aytekin muss ihn zwingend dafür verwarnen. Dafür hat er mindestens zwei Möglichkeiten: Entweder er läuft ihm hinterher und zeigt ihm mit energischer Körpersprache die Gelbe Karte oder er holt sich ihn heran, sichert seine Aufmerksamkeit, ermahnt ihn verbal auf deutliche Art und Weise und zeigt ihm dann die Gelbe Karte verbunden mit der Aufforderung, das nicht noch einmal zu tun. Aytekin entschied sich für die erste Möglichkeit. Da der griechische Innenverteidiger quasi auf der Ebene eines rebellischen und trotzigen Kindes agiert hat, ist dies verständlich. Denn hier galt es, Autorität zu zeigen und sich auf keine Diskussionen einzulassen. Demgegenüber stehen die ruhige Spielatmosphäre und Aytekins vorherige Spielleitung, die eher durch positive, wenn auch autoritäre Körpersprache und einen guten Draht zu den Spielern gekennzeichnet war.

4:50: Nach drei abfälligen Gesten verwarnt Aytekin Sokratis. Dieser läuft mit dem Rücken zugewandt davon, was während des Aussprechens einer Verwarnung grundsätzlich nicht ideal ist. Sokratis scheint sich allerdings beruhigt und mit der Szene abgeschlossen zu haben. Dem Unparteiischen bleiben hier wieder zwei Möglichkeiten: 1. Ihm noch Worte mit auf den Weg geben – womöglich hat er Sokratis dazu aufgefordert, sich umzudrehen, der dies aber nicht gemacht hat – und ihm ggf. klarzumachen, dass er beim nächsten Mal Gelb-Rot sieht oder 2. sich als Schiedsrichter nach dem Zeigen der Verwarnungskarte umdrehen und weggehen.

4:56: Aytekin entscheidet sich dafür, ihm mit einer klaren Gestik zu verdeutlichen, dass er beim nächsten Mal vom Platz gestellt wird. In dem Moment dreht sich Sokratis um und reagiert auf Aytekins Ermahnung erneut mit rebellischer, abfälliger und trotziger – später gar mit höhnischer – Gestik. Ab diesem Punkt bleibt dem Schiedsrichter nur noch eine Möglichkeit: Gelb-Rot.


Wie dargestellt, blieben Aytekin ab dem Moment bei 4:56 im Video keine Alternativen zum Platzverweis. Bei dem Versuch zu verstehen, wie die Situation vielleicht gar nicht so weit gekommen wäre, bzw. ob es elegantere Lösungen gegeben hätte, sind also die ersten beiden Zeitpunkte relevant.

Tendenziell erscheint die bei 4:47 gewählte Möglichkeit als die sinnvollere und verständlichere der beiden. Am ehesten können wir daher bei 4:50 ansetzen: Sokratis hatte sich mit der Verwarnung abgefunden. Er war das rebellische Kind, das seine gerechte Bestrafung erhalten hat. Die Frage ist nun, ob es taktisch clever war, Sokratis weitere Aufmerksamkeit zu schenken oder es nicht einfach dabei zu belassen.


Es ging in erster Linie um Macht und Autorität

Eines steht nämlich fest: Bei dem weiteren Situationsverlauf ging es aus psychologischer Sicht in erster Linie nicht um die Umsetzung des Regelwerks, sondern um Macht und Autorität. Es ging um die Frage, wer die Oberhand behält. Wer gewinnt und wer verliert. Durch seine „noch einmal und du fliegst“-Gestik hat der Schiedsrichter den Spieler ein Stück weit herausgefordert (Aktion), provoziert, vielleicht sogar ein erloschenes Feuer wieder entfacht (denn wie gesagt: Sokratis hatte mit der Szene abgeschlossen), worauf dieser wiederum mit weiteren abfälligen Gesten einstieg (Reaktion). 

Es bestand also eine klassische Win-Lose-Situation, aus der Sokratis mit seinem Temperament ebenso wenig als Verlierer hervorgehen wollte wie Aytekin, der dort nicht der Verlierer sein darf – denn sonst kann er seine zuvor untergrabene Autorität gleich begraben. Letztendlich hat sich der Referee durch die „noch einmal“-Gestik also selbst ein bisschen unter Zugzwang gesetzt. Da Schiedsrichter stets einen kühlen Kopf behalten und über den Dingen stehen sollten, war das rückblickend vielleicht nicht die allerbeste Idee.

Diese Überlegungen sind selbstverständlich nicht als Kritikpunkte, sondern vielmehr als Denkanstöße gemeint. Und sie sind mit zwei Einschränkungen verbunden: Erstens wissen wir, wie gesagt, nicht, was Aytekin Sokratis zuvor schon gesagt hatte bzw. ob es frühere Begegnungen der zwei Akteure gab. Zweitens weiß man hinterher alles besser - wobei hier nicht einmal zum Ausdruck kommen soll, dass eine andere Alternative zwangsläufig besser gewesen wäre. Diese Rückschauverzerrung wird allerdings dadurch abgemildert, dass die vorherige Analyse in der konkreten Situation mit den zu dem jeweiligen Zeitpunkt vorliegenden Umständen ansetzt - also quasi in die Situation hineingeht und sich in sie hineinversetzt - und die Dinge nicht aus einer allgemeinen Rückschau betrachtet.

Klar ist auch: In erster Linie ist hier Sokratis‘ einigermaßen unkluges Verhalten zu bemängeln. Jeder Spieler ist für sein Verhalten (und seine Dummheit) letztlich selbst verantwortlich. Das zeigen auch die Reaktionen der Beteiligten, inkl. Trainer Thomas Tuchel, die ausschließlich Sokratis rügten. Von der wichtigen, positiven Signalwirkung, die Aytekins konsequentes Vorgehen für untere Ligen hat und für die man ihm nur dankbar sein kann, mal ganz zu schweigen.

Lehreinheit Nr. 3: Selbstmanagement als Schiedsrichter (I) - Effektives Zielsetzungsmanagement

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Wie kann ich als Schiedsrichter besser werden? - Diese Frage stellt sich sicherlich jedem engagierten und selbstkritischen Unparteiischen. Antworten darauf sind nicht immer einfach. Ein Ansatzpunkt besteht jedoch darin, die eigenen Stärken und Schwächen zu analyiseren und sich darauf aufbauend anspruchsvolle, motivierende und handlungsleitende Ziele zu setzen. 
Wie das gelingen kann und wie "gute Ziele" formuliert sein sollten, so dass sie ihre leistungs-förderliche Wirkung entfalten können, klärt die Lehreinheit Nr. 3!

Vor allem die Besten der Besten setzen sich anspruchsvolle, langfristige Ziele

"My philosophy has always been to give my best, whatever I do. Of course I had certain objectives when I first started as a referee, such as being a first-class referee and taking part in big games such as finals. I always worked that way, set my objectives and was patient. If you work hard, then you get rewarded.” (UEFA.org)

Das obige Zitat stammt von Cüneyt Çakır (Foto), einem UEFA-Elite-Schiedsrichter aus der Türkei kurz vor dem von seinem Team geleiteten Champions League Finale 2015 zwischen Juventus Turin und dem FC Barcelona in Berlin.

Wie von diesem Spitzenschiedsrichter beschrieben geht es also darum, sich anspruchsvolle Ziele zu setzen und diese konsequent zu verfolgen.

Denn neben rein fachlichen Qualitäten, die sich lediglich auf dem "Spielfeld" bemerkbar machen, werden wie im Berufsleben auch im Schiedsrichterwesen überfachliche Aspekte, die sich eher auf Personenebene und vor allem außerhalb des Spielfeldes offenbaren, zunehmend relevanter. Dazu zählt auch die gesamte Bandbreite des Selbstmanagements - besonders für Fußballschiedsrichter.

Unter Selbstmanagement (oder auch Selbstregulation) werden selbstkontrollierende Aktivitäten verstanden, "bei denen es um das Erreichen bereits (extern) gesetzter Ziele geht, zu deren Gunsten auch gegen innere Widerstände gehandelt wird" (Müller & Wiese, 2010, S. 626). Unter dieses Spektrum fällt u.a. das Zielsetzungsmanagement.


Zielorientiertes Handeln

Ein Ziel wird alltagssprachlich als der Zweck von absichtlichen Handlungen verstanden. Psychologische Definitionen begreifen Ziele als „Vorwegnahmen von Handlungsfolgen, die mehr oder weniger bewusst zustande kommen. Sie beziehen sich auf zukünftige, angestrebte Handlungsergebnisse und beinhalten zugleich auch eine kognitive Repräsentation dieser Handlungsergebnisse.“ (Kleinbeck, 2010, S. 286).

Im Vordergrund beider Definitionen stehen dabei Handlungen, die auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet sind. Nach Kuhl (1983) gliedert sich zielorientiertes Handeln in zwei verschiedene Facetten:

1. Das Setzen von Zielen als Resultat der Abschätzung ihrer erwarteten Werte sowie der Erwartung, die Ziele zu erreichen (d.h.: es werden vor allem die Ziele verfolgt, die persönlich als attraktiv und erreichbar eingeschätzt werden). Hier spielt die individuelle Motivationslage eine wichtige Rolle – Ziele sind gewissermaßen das Ergebnis von Motivation.

2. Das Zielstreben, also der eigentliche Prozess der Zielverfolgung in Form von zielrealisierenden Handlungen. Hier geht es also eher darum, den nötigen Willen (Volition) zu zeigen, gesetzte Ziele zu erreichen.

Zunächst soll geklärt werden, welche Bereiche für Schiedsrichter im Hinblick auf Zielsetzung und Zielstreben relevant erscheinen:


Spielleitungsbezogene Ziele: betreffen u.a. den Bereich der Spielleitung einschließlich Regelanwendung, Regelauslegung und Spielkontrolle (z.B.: Verbesserung des Stellungsspiels in Strafraumnähe, indem der diagonale Laufweg besser ausgelaufen wird und der Strafraum betreten wird).

Fitnessbezogene Ziele: betreffen die eigene Fitness auf körperlicher (Ausdauer, Beschleunigung, Sprintschnelligkeit, Ernährung, physikalische Werte wie z.B. Körperfettanteil usw.) und geistiger Ebene (Konzentrationsfähigkeit usw.) (z.B.: den FIFA-Fitnesstest in einer bestimmten Sekundenzahl laufen und bestehen).

Persönlichkeitsbezogene Ziele: betreffen die individuelle Persönlichkeitsstruktur, das Selbstmanagement, Kommunikationsfertigkeiten sowie die Außenwirkung als Schiedsrichter (z.B.: mehr Selbstbewusstsein in der Körpersprache ausstrahlen).

Karrierebezogene Ziele: betreffen die eigene Schiedsrichterkarriere und -tätigkeit (z.B.: am Ende der Saison eine Durchschnittsnote von mindestens 8,40 haben; in eine höhere Liga aufsteigen).


Ziele setzen und verfolgen – Theoretische Fundierung

Zur Erklärung beider Stufen zielorientierten Handelns existieren zahlreiche Theorien. Wir beschränken uns hier auf die Darstellung zweier Theorien, aus denen sich für Schiedsrichter ein großer praktischer Nutzen ableiten lässt. Wen die theoretische Herleitung nicht interessiert, kann direkt zum praktischen Teil weiter unten springen.


Das Setzen von Zielen – die VIE-Theorie

Die Valenz-Instrumentalitäts-Erwartungs-Theorie (VIE-Theorie; Vroom, 1964) ist eine Motivationstheorie, die sich vor allem mit Prozessen auseinandersetzt, die zur Entscheidung für eine bestimmte Handlungsalternative – also im Prinzip bestimmter Ziele – führen.
V
Valenz = der persönlich empfundene Wert bzw. die subjektive Attraktivität einer Handlung und ihrer Folgen
I
Instrumentalität = die Wahrscheinlichkeit, dass sich aus einem Handlungsergebnis bestimmte Folgen ergeben, also inwieweit eine Handlung Mittel zum Zweck für etwas ist
E
Erwartung = die subjektive Wahrscheinlichkeit, mit der eine Handlung zu einem bestimmten Handlungsergebnis führt

Die VIE-Theorie (s. Abb. 2) nimmt daher an, dass Ziele das Ergebnis einer multiplikativen Abschätzung der drei Komponenten Valenz, Instrumentalität und Erwartung sind. Zielorientiertes Handeln besteht also darin, 

1. Handlungen auszuüben, von denen angenommen wird, dass sie sehr wahrscheinlich zu bestimmten Ergebnissen führen (Erwartung)
2. dass diese Ergebnisse wiederum sehr wahrscheinlich zu einem übergeordneten Ziel führen (Instrumentalität) und
3. dass dieses übergeordnete Ziel einen bestimmten persönlichen Wert (Valenz) für das Individuum hat.





Sind all diese Zusammenhänge gegeben, so wird das Verhalten laut der Theorie mit hoher Anstrengung auf das übergeordnete Ziel hin ausgerichtet – es ergeben sich folglich positive Leistungs- und Motivationseffekte.

Bei der Zielsetzung ist also eine Identifikation von Zwischenzielen (Ergebnissen bestimmter Handlungen) sowie eine realistische Einschätzung darüber, ob diese Zwischenziele zur Erreichung eines positiv bewerteten Hauptziels beitragen, entscheidend. Wichtig erscheint hierbei, dass das übergeordnete Ziel für die Person attraktiv sein sollte. Ist es das nicht – oder empfindet eine Person das Ziel X sogar als negativ –, so ergeben sich laut VIE-Theorie negative Motivations- und Leistungseffekte.

Für Schiedsrichter und (falls vorhanden) ihre Coaches bedeutet dies:

1. Klären, welche übergeordneten Ziele für sich selbst / den Schiedsrichter attraktiv sind.
2. Den Weg zum Ziel definieren: Was müsste gegeben sein, dass die übergeordneten Ziele erreicht werden?
3. Handlungen bzw. Verhaltensweisen identifizieren, die dazu beitragen, die Voraussetzungen für die Zielerreichung zu erfüllen.

Das folgende Beispiel verdeutlicht dies für den fiktiven Fall eines Juniorenbundesligaschiedsrichters:

Der Schiedsrichter festgestellt, dass ihm in seinen letzten Spielen gerade in der Schlussphase bei kritischen Situationen im Strafraum gelegentlich das optimale Stellungsspiel fehlte, er zu häufig zu weit entfernt positioniert war und den nötigen seitlichen Einblick in Zweikämpfe vermissen ließ. Dadurch kam es in seinem letzten Spiel zu einem übersehenen Strafstoß und einigen weiteren Szenen, in denen er sich nicht 100% sicher in seiner strafraumnahen Zweikampfbewertung fühlte. Darunter hat nicht nur sein Vertrauen in die eigenen Entscheidungen, sondern – so das Gefühl des Schiedsrichters – auch das Vertrauen der Spieler in ihn als Schiedsrichter gelitten, was sich in vermehrtem Reklamieren äußerte.

Gemeinsam mit seinem Coach diskutiert er das Problem. Nach der Videoanalyse der relevanten Spielsituationen fällt dem Coach auf, dass die Ausdauer des Schiedsrichters in der Schlussphase intensiver Spiele verbesserungswürdig ist. Vor allem in den letzten Spielminuten gingen ihm zuweilen die Sprintgeschwindigkeit verloren und die „Körner“ aus.

Daher definieren der Schiedsrichter und das Coach das übergeordnete Ziel, die Wege zur Zielerreichung und dazu nötige Handlungen:




Mit dem Setzen von Zielen ist es allerdings nicht getan. Im Folgenden geht es darum, wie gute Ziele formuliert sein sollten, wie Ziele realisiert werden und wie Zielstreben im Inneren funktioniert.


Das Zielstreben – die Zielsetzungstheorie

Die Forschung von Edwin Locke und Gary Latham, die 1990 bzw. 2002 in die Zielsetzungstheorie bzw. den sog. High Performance Cycle mündete, beantwortet drei wesentliche Fragen:

1. Wie wirken sich Ziele auf die individuelle Leistung aus?
2. Unter welchen Umständen entfaltet sich eine mögliche Wirkung?
3. Wie sollten Ziele demzufolge formuliert und gestaltet werden?

Die folgende Abbildung veranschaulicht den High Performance Cycle.




Wie oben illustriert, führen Ziele über zielorientiertes Handeln zu Leistung. Dieser Wirkmechanismus entfaltet sich über die investierte Anstrengung, Ausdauer der Handlung, das Schmieden von Plänen und Strategien zur Zielerreichung sowie einem zieldienlichen Handlungsfokus. Allerdings hängt die Stärke und Richtung dieses Effekts von einigen Moderatoren ab, darunter Feedback, das eigene Selbstwirksamkeitsempfinden und Commitment, also Zielbindung. Darauf wird weiter unten nochmals Bezug genommen.

Die empirisch abgesicherte Theorie liefert zudem Hinweise, wie gute Ziele idealerweise formuliert werden sollten. Demzufolge führen nur spezifische – also konkret und präzise formulierte –, anspruchsvolle und schwierige sowie partizipativ gestaltete Ziele zu dem dargestellten Effekt auf die Leistung.

Entsprechende Leistungseffekte sollten gemäß der Theorie weiterhin belohnt werden, nämlich zum einen intrinsisch (in der Person liegend) und extrinsisch (aus der Umwelt stammend). Ist dies gegeben, so besteht eine hohe Bereitschaft (Commitment) dazu, Ziele oder Aktivitäten weiterhin zu verfolgen (s. Punkt 10. weiter unten).


Ziele setzen und verfolgen - Praktische Anwendung

Daraus folgt für Schiedsrichter und (falls vorhanden) ihre Coaches:

1. Ist-Soll-Analyse durchführen

Schiedsrichter sollten zu allererst ihre Stärken (Ressourcen) und Schwächen (Weiterentwicklungs-potenziale) analysieren und einen Ist-Soll-Abgleich vornehmen. Wo sollte ich im Bereich X sein, wo stehe ich tatsächlich? In welchen Bereichen bin ich bereits gut und was kann ich tun, um mich dort zu stabilisieren? Worin kann ich besser werden und wie kann mir das gelingen?

Idealerweise sollten sich Schiedsrichter hierzu Rückmeldungen von möglichst vielen Seiten einholen. Neben der eigenen Selbsteinschätzung erstreckt sich dies u.a. auf Feedback von Schiedsrichterkollegen, Schiedsrichterbeobachtern und dem eigenen Schiedsrichtercoach. In vielen Fällen erhalten Schiedsrichter – gerade auf Amateurebene – allerdings keine Beobachtungen oder Coachings. Hier kommt der eigenen Einschätzung ein besonders starkes Gewicht zu, welche daher mit der nötigen selbstkritischen Distanz vorgenommen werden sollte.

Gerade in höheren Ligen sind Unparteiischen in der Regel Beobachter und Coaches zugeteilt. Gemeinsam mit dem Coach kann der Ist-Soll-Abgleich daher ggf. unter Berücksichtigung zurückliegender Beobachtungsberichte bspw. halbjährlich erfolgen. Dabei sollten vor allem systematische Stärken und Schwachstellen identifiziert werden.


2. Ziele SMARTER formulieren

Eine weit verbreitete Formel fasst einprägsam zusammen, wie gute, reizvolle Ziele idealerweise formuliert werden sollten. Dabei handelt es sich um die sog. SMART-Formel. Für diese Lehreinheit wird auf Basis der Theorie eine Adaption und Erweiterung vorgenommen: Statt smarten Zielen, sollten hingegen smartere definiert werden. Die SMARTER-Formel im Überblick:


S
Spezifisch: Ziele sollten so präzise, eindeutig und konkret wie möglich formuliert werden. Von vage formulierten Zielen (z.B.: „Gib im nächsten Spiel einfach alles!“ oder „Verbessere dein Positionsspiel“) sollte daher Abstand genommen werden, da sie zu Leistungseinbußen führen (Bipp & Kleingeld, 2008).
M
Messbar: Ziele sollten messbar oder zumindest beobachtbar sein. Es sollten klare Kriterien definiert werden, anhand derer eine Zielerreichung ablesbar ist.
A
Anspruchsvoll: Ziele sollten anspruchsvoll und schwierig formuliert werden, …
R
Realistisch:… dabei aber in Qualität und Quantität realistisch und erreichbar bleiben.
T
Terminiert: Ziele sollten einen klaren zeitlichen Horizont, Deadlines und Zwischenüberprüfungen vorsehen
E
Ermutigend: Ziele sollten subjektiv attraktiv und mit Belohnungen verbunden sein.
R
Rückgemeldet: Ziele sollten partizipativ formuliert und rückmeldungsorientiert. Die Zielerreichung sollte durch Feedback laufend bzw. zu gegebener Zeit überprüft und unterstützt werden. Ziele sind somit das Ergebnis von Selbst- und Fremdeinschätzungen über Feedback.

3. Anspruchsvolle Ziele wählen

Ziele sollten schwierig zu erreichen sein, aber dennoch erreichbar bleiben. Sie sollten fordern und fördern. Dagegen demotivieren zu einfache Ziele, die leicht erreicht werden können, so dass auf sie verzichtet werden sollte (Bakker & Demerouti, 2007).


4. Zeitlichen Horizont berücksichtigen und definieren

Ziele sollten stets an einen bestimmten Zeitpunkt oder wenigstens Zeithorizont gebunden sein. Eine grobe Einteilung in kurz-, mittel- und langfristige Ziele ist hier sinnvoll. Wichtig ist, bei der Zielvereinbarung dennoch möglichst konkrete Daten oder Termine festzuhalten, bis zu denen ein Ziel zu einem bestimmten Grad erreicht sein sollte (z.B.: „bis zum Saisonende“ oder „bis zum nächsten Fitnesstest am 20.02.“).


5. Ziele aktiv und positiv gestalten

Aktiv formulierte Ziele sind üblicherweise motivierender als passiv formulierte. Außerdem sollten Ziele stets positiv und nicht negativ ausgerichtet sein. Unsere linke Hirnhälfte verarbeitet Verneinungen nämlich logisch und akkurat – unsere rechte jedoch nicht, sie kann Verneinungen nicht verarbeiten. Eine negative Botschaft löst daher eine logische Reaktion in der einen und eine mit ihr in Konflikt stehende Reaktion in der anderen Hirnhälfte aus. Statt dem passiv-negativen Ziel „In der nächsten Saison weniger von Stress beeinflusst werden“ könnte man eher die aktiv-positive Formulierung „In der nächsten Saison effektiver mit Stress umgehen“ wählen. Es sollten also Annäherungs- statt Vermeidungsziele gewählt werden.


6. Nach Bereich strukturieren

Zur Strukturierung und Übersichtlichkeit empfiehlt es sich gerade in Coach-Schiedsrichter-Gesprächen, Ziele nach den oben dargestellten vier Bereichen zu gliedern und Bereich für Bereich nacheinander durchzugehen.


7. Nicht überladen

Mit Blick auf ihre Qualität sollten Ziele zwar anspruchsvoll sein , aber trotzdem erreichbar bleiben. Sie sollten auf das Fähigkeitslevel des Unparteiischen zugeschnitten sein und es nicht übermäßig übersteigen, aber auch keinen Stillstand herbeiführen. Auch hinsichtlich ihrer Anzahl sollten Ziele Schiedsrichter nicht überladen: Mehr als 2-3 Ziele bzw. Verbesserungspunkte je Bereich sind wohl kaum zu "verdauen" und gleichzeitig zu verfolgen.


8. Regelmäßiges Feedback

Um Schiedsrichter in die Lage zu versetzen, ihren Leistungsstand und ihre Zielverfolgung einschätzen zu können, bedarf es regelmäßiger Beobachtungen und Coachings. Erfahrene Schiedsrichter bzw. Beobachter sollten gerade junge Unparteiische nicht nur in ihren ersten Spielen, sondern regelmäßig begleiten und beurteilen. Wie gutes Feedback aussieht, wird in einer der künftigen Lehreinheiten besprochen. Für Unparteiische in niedrigklassigen Ligen, die weder beobachtet, noch gecoached werden, empfiehlt es sich, sich selbst Ziele zu setzen und zu versuchen, ihre Erreichung möglichst objektiv zu überprüfen. Ein guter Ansatzpunkt ist es, sich nach jedem (wichtigen) Spiel drei positive Punkte und drei Verbesserungspunkte zu notieren, an denen in den nächsten Spielen gearbeitet werden kann.

Wie man als Beobachter bzw. Coach effektives Feedback gibt und welche Feedbackregeln Schiedsrichter beherzigen sollten, klärt die mehrteilige Lehreinheit Nr. 7.


9. Motivierende Ziele wählen

Ziele können überaus motivierend sein, wenn sie richtig gewählt werden. Werden sie, wie oben dargestellt, richtig und attraktiv formuliert, können sie den Schiedsrichter im Sinne eines sog. „Pull-Faktors“ zu Spitzenleistungen anspornen. Denn neben sog. „Push-Faktoren“, wie z.B. eine hoch ausgeprägte Leistungsmotivation, die Personen also quasi zu Leistung „schieben“, können Ziele hingegen „anziehend“ und „mitreißend“ wirken.


10. Passende Belohnungen bzw. Konsequenzen wählen

Schiedsrichterfunktionäre sollten gute Leistungen und positive Zielerreichungen angemessen belohnen. Möglichkeiten dazu bestehen bspw. in offen kommunizierter Anerkennung, interessanten Ansetzungen mit steigender Wichtigkeit oder gar Aufstiegen in höhere Ligen. Bekommen Schiedsrichter auf lange Frist das Gefühl, dass deutliche Leistungssteigerungen nicht angemessen honoriert werden, könnte dies negative Auswirkungen auf ihre Motivation, Zufriedenheit und dadurch auch auf ihre Leistung haben.


Ein systematisches Zielmanagement setzt voraus, dass die besprochenen oder selbst festgelegten Ziele schriftlich festgehalten und somit greifbar gemacht werden. Mit dem folgenden Zielmanagementbogen für Schiedsrichter und ihre Coaches kann dies gelingen:

> Dokument: Zielmanagementbogen für Schiedsrichter und ihre Coaches
> PDF: Beispielbogen für den fiktiven Fall eines Juniorenbundesligaschiedsrichters


Abschließend seien Schiedsrichter und Coaches also ausdrücklich dazu ermutigt, anspruchsvolle und motivierende Ziele in den vier genannten relevanten Bereichen zu formulieren, zu verfolgen und zu überprüfen. Denn die dargestellten, empirisch fundierten Theorien zeigen eindrücklich: Wer sich Ziele setzt, dabei auf einige Regeln der Zielformulierung achtet und sich regelmäßiges Feedback einholt, kann seine Leistung auf und neben dem Platz effektiv steigern und so Stück für Stück seine Stärken stabilisieren und an seinen Schwächen feilen.

> Beitrag als PDF herunterladen

Literatur

Bakker, A.B. & Demerouti, E. (2007). The job demands-resources model: State of the art. Journal of Managerial Psychology, 22, 309-328.

Bipp, T. & Kleingeld, A. (2011). Goal-setting in practice – the effects of personality and perceptions of the goal-setting process on job satisfaction and goal commitment. Personnel Review, 40(3), 306-323.

Kleinbeck, U. (2010). Handlungsziele. In J. Heckhausen & H. Heckhausen (Hrsg.), Motivation und Handeln. (4. Aufl., S. 285-308). Heidelberg: Springer.

Kuhl, J. (1983). Motivation, Konflikt und Handlungskontrolle. Berlin: Springer.

Locke, E.A. & Latham, G.P. (1990). A Theory of Goal Setting and Task Performance. Englewood Cliffs, N.J.: Prentice-Hall.

Locke, E.A. & Latham, G.P. (2002). Building a practically useful theory of goal setting and task motivation. American Psychologist, 57, 705-717.

Müller, G.F. & Wiese, B.S. (2010). Selbstmanagement und Selbstführung in der Arbeit. In U. Kleinbeck & K.-H. Schmidt (Hrsg.), Arbeitspsychologie. Enzyklopädie der Psychologie D/III/1. (S. 623-669). Göttingen: Hogrefe.

Nerdinger, F.W. (2013). Arbeitsmotivation und Arbeitshandeln. Kröning: Asanger.

Tozar, T. & Chaplin, M. (2015). Cüneyt Çakır 'enjoying the moment'. http://www.uefa.org/protecting-the-game/refereeing/news/newsid=2253801.html, abgerufen am 18.02.2017.

Vroom, V. (1964). Work and motivation. New York: Wiley.


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Nachspielzeit (21. Spieltag): Vier Augen sehen mehr als zwei - vor allem aus seitlichen Blickwinkeln

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Auch wenn in dieser Spielwoche und ganz besonders an diesem Bundesligaspieltag die Debatte über das Thema Nachspielzeit dominierte (Hintergründe zur Nachspielzeit hier), so gab es aus Schiedsrichtersicht in einigen Spielen eine weitere bemerkenswerte Parallelität der Ereignisse. Was ein nicht gegebener Strafstoß bei Dortmunds Champions-League-Autritt in Lissabon, zwei verschossene Strafstöße in Hamburg und Mönchengladbach sowie der erste Platzverweis in Frankfurt gemeinsam hatten.

Vom Schiedsrichterassistenten 'überstimmt': Strafstoß für Hamburg


Schiedsrichterassistenten sind schon seit langem keineswegs mehr nur "Linienrichter", die lediglich Einwürfe, Eckstöße und Abstöße anzeigen sollen und nur im Extremfall vielleicht mal ein Foul signalisieren dürfen. Stattdessen handelt es sich in modernen Gespannen heute um nahezu gleichberechtigte Unterstützer des Schiedsrichters in vielen relevanten Bereichen der Spielleitung.

Ihnen kommt gerade im schnelllebigen Profifußball eine besondere Bedeutung zu, da dem Schiedsrichter trotz idealen Positionsspiels nicht immer alle Sichtkanäle und Blickwinkel zur Verfügung stehen, die zum akkuraten Treffen einer Entscheidung benötigt würden. Durch eine weitere visuelle Perspektive und einen anderen Sichtwinkel erhalten Referees von ihren Assistenten in vielen Situationen daher zusätzliche, im wahrsten Sinne des Wortes 'entscheidende' Informationen.

Dieser Umstand unterstreicht die Bedeutung, Schiedsrichter nicht nur als Individuen, sondern ihre Gespanne als Einheit, in der vertrauensvolles, effektives Teamwork maßgeblich zu erfolgreichen Spielleitung beiträgt, zu begreifen. Nicht umsonst steht Team häufig plakativ für 'Together Everybody Achieves More' eingesetzt.

Genau dieses Prinzip offenbarte sich in den oben angesprochenen und in der Folge analysierten Spielsituationen. Sie sind Musterbeispiele dafür, welch entscheidende Rolle Schiedsrichterassistenten durch ihre besondere 'Sicht auf die Dinge' spielen.


Borussia Mönchengladbach - RB Leipzig

Es lief die 44. Spielminute im Borussiapark. Nach einem hohen, langen Pass auf Lars Stindl war dieser gerade im Begriff, den Ball in der Höhe zu kontrollieren, als er von Leipzig-Verteidiger Marvin Compper unfair am Fuß getroffen wurde (s. Video). Wie Zeitlupen später belegten, ereignete sich der strafbare Kontakt an der Kante des Strafraums - und zwar genau auf der Strafraumlinie, so dass Schiedsrichter Felix Zwayer vollkommen zurecht auf den Punkt zeigte (denn gemäß Spielregeln gehört die Linie zum Strafraum).

Die eigentliche Entscheidung wurde jedoch von jemand anderem getroffen: vom 1. Schiedsrichterassistenten Thorsten Schiffner. Denn bei Entscheidungen der Kategorie 'Innerhalb vs Außerhalb' kommt es vor allem auf den Input des Assistenten an. Dieser befand sich zum Zeitpunkt des Kontakts - wie vorgeschrieben - auf ungefährer Höhe des zweitletzten Verteidigers und in diesem Fall daher auch glücklicherweise genau auf Höhe der Strafraumlinie. Durch seinen seitlichen Blickwinkel konnte er erkennen, dass der Kontakt auf der Strafraumlinie erfolgte. Sofort signalisierte der erfahrene FIFA-Assistent mit Fahnenzeichen, dass ein Foulspiel vorlag und bewegte sich zudem in Richtung der Eckfahne bzw. Torlinie. Dadurch und durch die zweifelsohne präzise Kommunikation über das Headset hat er seinem Chef auch die korrekte Spielfortsetzung (Strafstoß) übermittelt. So konnte Zwayer praktisch ohne zeitliche Verzögerung pfeifen und, noch viel wichtiger, direkt auf den Punkt zeigen, bevor Proteste oder Unklarheiten aufkeimen konnten. Nicht verwunderlich also, dass Zwayer nicht nur auf den Punkt, sondern seinem Assistenten Schiffner anschließend auch den Daumen zeigte. Dass der Elfmeter verschossen wurde, sollte den spielbeeinflussenden Charakter dieser vorzüglichen Teamarbeit nicht mindern.


Hamburger SV - SC Freiburg

Nicht ganz so sauber, aber ähnlich lief es auch in der Schlussphase des Spiels Hamburg gegen Freiburg. Beim Stand von 2:2 betrat Aaron Hunt den Freiburger Sechzehner und wurde schließlich von Torrejón gestellt. Daher drehte sich Hunt 180° um die eigene Achse und schien so in Rücklage zu geraten, so dass er schließlich über Torrejóns Beine stolperte (s. Video). So sah es zumindest zunächst aus. Und scheinbar auch für Schiedsrichter Christian Dingert, der mit der Gestik "Steh auf, war nichts" schnell andeutete, dass das für einen Elfmeterpfiff nicht ausreichte, und bereits auf dem Absatz kehrt machte, um sich in Richtung Mittelfeld zu bewegen. Ganz offenbar hat er dann jedoch von seinem 1. Assistenten Tobias Christ Informationen erhalten, die ihn dazu bewegten, seine Einschätzung zu ändern und auf den Punkt zu zeigen.

Die Zeitlupen waren leicht widersprüchlich: Aus zwei Blickwinkeln sah es tatsächlich so aus, als habe Hunt schlicht weg die Balance verloren. Die Zeitlupen, die das Geschehen von der Seite aus betrachten ließen, sprachen eine andere Sprache: Demnach befand sich Hunt zwar in leichter Rücklage - ursächlich für sein Fallen war aber womöglich ein fahrlässiger Kontakt von Torrejón, der Hunt mit seinem rechten Bein unten entscheidend touchierte. Das war so vermutlich nur für den Assistenten zu sehen, der eben - im Gegensatz zu Dingert - einen perfekten 90°-Sichtwinkel von der Seite hatte. Hier wäre der Schiedsrichter vielleicht gut beraten gewesen, sich nicht sofort festzulegen, sondern zuerst Informationen vom Assistenten her einzuholen (durch Augenkontakt und Headsetkommunikation). Erst abzuwinken und dann auf den Punkt zu zeigen, weckte unnötige Hoffnungen bei den Freiburgern, sorgte für Konfusion und führte vielleicht sogar zu stärkeren Protesten und größerem Unverständnis, als es hätte sein müssen. Wichtiger ist allerdings, ob am Ende die korrekte oder zumindest vertretbare Entscheidung stand. Und das war wohl der Fall - dank des guten Sichtwinkels und 'mutigen' Einschreitens des Assistenten.


Eintracht Frankfurt - FC Ingolstadt 

Ähnlich lässt sich auch erklären, wieso Schiedsrichter Guido Winkmann David Abrahams grobes Foulspiel, das an einen Kungfu-Tritt erinnert, akkurat einordnen und ahnden konnte (s. Video bei 0:24). Die gestreckte Sohle, mit der Abraham seinen Gegenspieler in der Taillengegend mit übermäßiger Härte und offensichtlicher Gesundheitsgefähdung traf, war in der Form vor allem der Seite zu erkennen. Winkmann war zum Geschehen etwa 20m entfernt und hatte keinen optimalen Blickwinkel (~ 20°) auf die Situation. Zwar konnte er das Vorliegen eines womöglich schwerwiegenden Foulspiels erkennen und somit auch schnell pfeifen. Dass er zuerst in seine linke Brusttasche gelangt hat und offenbar eine Gelbe Karte hervorholen wollte, schließlich aber Rot zeigte, lässt erahnen, dass er evtl. von seinem Assistenten Christian Bandurski entsprechende Hinweise erhalten hat.

Der Assistent befand sich nämlich genau auf Höhe des Vergehens, hatte freie Sicht und einen perfekten seitlichen Einblick in die Szene - und wie die Zeitlupen (bei 0:26 im Video) nahelegen, ist auch in diesem Fall eine seitliche Perspektive nötig, um die Schwere des Foulspiels angemessen einschätzen und sanktionieren zu können. Vielleicht war sich der Unparteiische selbst nicht sicher, ob das Foul mit Gelb oder Rot zu ahnden sei. In solchen Fällen ist es immer hilfreich, Informationen von den eigenen Teamkollegen zu erhalten und diese in die Entscheidung mit einzubeziehen. Im unspektakulärsten Fall werden Schiedsrichter von diesen Informationen nur noch zusätzlich in ihrer eigenen Wahrnehmung bestärkt, was positiv zu einem selbstbewussteren Verkaufen und Kommunizieren der Entscheidung beiträgt.


SL Benfica - Borussia Dortmund 

Dass dies nicht immer gelingt, zeigte die 40. Minute im Estádio da Luz: Beim Spielstand von 0:0 drehte Dortmunds Dembélé auf der rechten Außenbahn auf und versuchte trotz eines verunglückten Zuspiels den Ball noch zu erreichen. Verteidiger Lindelof verließ sich auf Benfica-Schlussman Ederson, der bereits im Begriff war, aus seinem Tor herauszukommen. Lindelof hatte Dembélés Geschwindigkeit jedoch unterschätzt, so dass der Dortmunder kurz vor dem Torwart an den Ball kam und ihn mit der Fußspitze spielen konnte. Ederson hatte indes schon ausgeholt, um den Ball in Richtung Tribüne zu schießen. Anstelle des Balls traf er nur Dembélé. Erstaunlicherweise blieb die Pfeife des WM-2014-Final-Schiedsrichters Nicola Rizzoli aus Italien stumm (s. Video).

Dass Dembélé zuvor gefoult wurde, hätte vor allem der Assistent von der Seite sehen können

Auch hier legten Zeitlupen nahe, dass sich der Kontakt wohl auf der Strafraumlinie ereignete, so dass Dortmund hier einen Elfmeter hätte bekommen sollen (s. 0:50 im Video). Manch einer wird sich zudem wieder einmal über "diese Torrichter" echauffiert haben, die ja zu nichts zu gebrauchen seien. Bei einer tiefergehenden Analyse der Situation zeigt sich, dass den zusätzlichen Schiedsrichterassistenten (Additional Assistant Referee, AAR) keine Schuld trifft.

Das Foul war auch in diesem Fall am besten von der Seite - idealerweise also aus einem 90°-Winkel, wobei hier auch weniger ausgereicht hätte - zu sehen (s. Screenshot hier). Keinesfalls zu sehen war dies aus einem kleinen Blickwinkel von einer Position hinter dem Torwart - aber genau die hatte der AAR. Für ihn muss das Ganze wie eine Kollision ausgesehen haben. Ob dabei ein strafbarer Kontakt vorgelegen hat, war für ihn höchstwahrscheinlich unmöglich zu erkennen, da er wohl kaum durch Ederson hindurch blicken konnte. Der Schiedsrichter war so weit entfernt und ungünstig positioniert, dass seine Sicht höchstwahrscheinlich blockiert war (wozu er aber durchaus selbst etwas konnte).

Den beschriebenen seitlichen Blickwinkel hätte insbesondere der 1. Assistent Elenito Di Liberatore gehabt, wenn er korrekt positioniert gewesen wäre (s. die Zeitlupe von der Seitenlinie). Doch das war er nicht. Auch nicht sein Chef Rizzoli. Beide schlossen mit der Szene offenbar in dem Moment ab, als Lindelof den Ball nicht weiter verfolgte und ihn seinem Torhüter überließ. Dass Dembélé durchziehen und dem Ball hinterherjagen würde, hatten beide Offiziellen wohl nicht auf dem Zettel. Nur so lässt es sich erklären, wieso Rizzoli, der gut 30m entfernt war, und vor allem sein Assistent ihre Laufwege vor dem Kontakt verlangsamten. Gerade der Assistent hätte eigentlich durchlaufen müssen, um auf der Höhe des zweitletzten Verteidigers zu bleiben. Hätte er dies getan, hätte er den nötigen seitlichen Blickwinkel gehabt, um das eindeutige Vergehen des Torwarts als solches zu erkennen und es Rizzoli rückzumelden. Erst dann hätte der AAR dabei helfen können, den genauen Ort des Vergehens zu identifizieren - denn dieser stand korrekterweise auf Höhe der zur Torlinie senkrechten Strafraumgrenze.

Diese Situation verdeutlicht noch einmal die Relevanz der Herstellung seitlicher Blickwinkel auf Spielsituationen und gleichermaßen auch die Notwendigkeit, selbst in unvorhergesehenen Situationen konzentriert zu bleiben. Dies spiegelt die UEFA-interne Phrase "Always expect the unexpected" - also: "Erwarte stets das Unerwartete" - prägnant wider.


Was Unparteiische aus diesen Szenen mitnehmen können

1. Im eigenen Positionsspiel stets versuchen, seitliche Blickwinkel herzustellen.

2. Bei Entscheidungen, in denen die Unterstützung durch einen Assistenten hilfreich sein könnte, den Kontakt zum Kollegen suchen (Augenkontakt, Handzeichen, Headset ...).

3. Das eigene Schiedsrichtergespann als Team begreifen, in dem alle Mitglieder zu korrekten Entscheidungen durch ihre jeweils verschiedenen, sich aber wertvoll ergänzenden Perspektiven beitragen können.

4. Als Schiedsrichter die eigenen Assistenten dazu ermutigen, exklusive Informationen, die nur sie wahrnehmen können, an sich weiterzuleiten und so Entscheidungen, die Assistenten aus ihrem Sicht- und Verantwortungsbereich sicher treffen können, herbeizuführen (Fahnenzeichen, Headset...).

5. Sich bei wichtigen Entscheidungen mit dem Assistenten - gerade wenn er gut und nah positioniert ist - vor dem Treffen einer Entscheidungen abstimmen, z.B. durch Augenkontakt oder auf Profiebene durch diskrete, elektronische Kommunikationswege.

6. Und, wie immer, stets das Unerwartete erwarten!



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Nachspielzeit (22. Spieltag): Über Abseits, Absicht(en) und Effekt(e)

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Aus Schiedsrichtersicht verlief der zurückliegende 22. Bundesligaspieltag erfreulich reibungslos und unauffällig. Dies änderte sich in der 52. Minute des Topspiels zwischen der Hertha aus Berlin und Eintracht Frankfurt und spätestens mit Lars Stindls kuriosem Handtor, das selbst unter (vermeintlichen) Experten unterschiedliche Einschätzungen nach sich zog. Diskussionen löste auch eine kürzlich erschienene Studie aus, die mit ihrem reißerischen Titel an Hoyzersche Zeiten erinnert.


Herthas 1:0 gegen Frankfurt irregulär?

In der 52. Minute des Topspiels mussten Schiedsrichter Sascha Stegemann und vor allem sein Assistent Frederick Assmuth gleich drei Entscheidungen binnen weniger Sekunden fällen (siehe Video 1 und Video 2).

1. Stand Kalou beim ersten Pass in die Tiefe im Abseits?

Die Zeitlupen zeigen, dass sich im Moment des Abspiels lediglich Kalous Hinterteil um wenige Zentimeter im Abseits befand. Durch gegenläufige Bewegungen ist dies für den Assistenten kaum zu sehen – hier die Fahne unten zu lassen, ist vollkommen in Ordnung und wird von Verbänden wie der UEFA in solch engen Szenen sogar empfohlen.

2. Wurde Kalou von Oczipka regelwidrig zu Fall gebracht?

Zeitlupen zeigen einen Kontakt am Fuß, wodurch Oczipka seinen Gegenspieler Kalou unabsichtlich, aber doch effektiv zu Fall brachte. Bei solchen Vergehen ist Absicht kein relevantes Kriterium. Denn Fahrlässigkeit liegt dann vor, „wenn ein Spieler unachtsam, unbesonnen oder unvorsichtig in einen Zweikampf geht“ (Regel 12, S. 83). Da Ibisevic jedoch frei zum Schuss kam, wäre es vertretbar gewesen, wenn Stegemann hier einen Vorteil gegeben hätte (denn der ist bei Vergehen innerhalb des Strafraums wirklich nur dann zulässig, wenn sich eine offensichtliche Torchance als Vorteil ergibt). Die Reaktionen und fehlende Gestik des Schiedsrichters deuten darauf hin, dass er hier jedoch keinen Vorteil gegeben hat. Wahrscheinlicher ist, dass der Referee den Kontakt so nicht wahrgenommen hat – vielleicht auch deswegen, weil er durch ein unglückliches Ausweichmanöver in seinem Stellungsspiel ganz zu Beginn der Aktion an Tempo eingebüßt hat und somit nicht den allerbesten Sichtwinkel einnehmen konnte.

3. Griff Kalou beim Abstauber von Ibisevic aktiv ein?

Nachdem der Ivorer am Einschuss gehindert wurde, gelangte der Ball zu seinem Sturmpartner Vedad Ibisevic, der den Ball locker abstauben und am Torhüter vorbei ins Tor befördern konnte. Doch auch hier spielte Kalou eine zentrale Rolle: Er blieb nach seinem Sturz auf dem Boden liegen und behinderte somit im den Frankfurter Schlussmann Hradecki. Dieser musste mehr oder weniger über Kalou steigen, um den Winkel bestmöglich zu verkürzen. Dadurch kam er einen entscheidenden Bruchteil einer Sekunde zu spät und ließ die kurze Ecke offen, die Ibisevic prompt anvisierte. Wiederholungen zeigen: Kalou befand sich im Moment des Ibisevic-Schusses in einer Abseitsposition. Vorab: Dies zu erkennen, war für den Schiedsrichterassistenten aus mehreren Gründen sicher keine leichte Aufgabe.

Erstens blieb der Schiedsrichterassistent im Moment des Passes auf Kalou eher statisch und nahm nicht die nötige Geschwindigkeit auf, um auf Höhe des zweitletzten Verteidigers zu bleiben.  Auffällig ist auch, dass der Assistent mit einem Arm- bzw. Handzeichen angezeigt hat, dass keine Abseitsposition vorlag. Laut Offside Explained – einer auf die Abseitsthematik spezialisierten, von einem FIFA-Assistenten betriebenen und überaus empfehlenswerten Website – führen solche Armzeichen zu erheblichen Sprinteinbußen und sorgen letztlich dafür, dass Assistenten wertvolle Geschwindigkeit vergeuden. Im Moment des Schusses von Ibisevic war der Assistent gut 2 Meter von seiner vorgeschriebenen Position entfernt, was keinesfalls positiv zu einer korrekten und akkuraten Einschätzung einer potenziellen Abseitsposition beiträgt (Oudejans et al., 2005).

Zweitens lief der hintere Frankfurter Verteidiger sehr schnell in Richtung der Torlinie und befand sich ungefähr 0,3 Sekunden nach dem Schuss von Ibisevic schon näher an der Torlinie als Kalou. Hier kommt im Zusammenhang mit Abseitspositionen eine visuelle Verzerrung (der sog. Flash-Lag-Effekt) zum Tragen, der dafür sorgt, dass Menschen sich bewegende Objekte (Frankfurter Verteidiger) relativ zu statischen (Kalou) bzw. „aufblitzenden“ (Ballabgabe) Objekten zu einem bestimmten Zeitpunkt X (der Moment der Ballabgabe) weiter vorangeschritten wahrnehmen, als sie es tatsächlich sind (s. das folgende Video).



Ganz simpel formuliert heißt das: Für den Assistenten mag es zum Zeitpunkt der Ballabgabe folglich so ausgesehen haben, als sei der hintere Frankfurter Verteidiger in etwa auf gleicher Höhe mit Kalou oder als befände er sich sogar näher an der Torlinie (rot gestrichelte Markierung).

Durch den Flash-Lag-Effekt und das inakkurate Positionsspiel des Assistenten war die Abseitsposition von Kalou wohl ohnehin nicht wahrnehmbar - unabhängig davon, ob er aktiv wurde oder nicht. Dies zeigt die rot gestrichelte Linie, die die subjektiv wahrgenommene Abseitslinie aus den Augen des Assistenten darstellen soll. Natürlich wird er diese intuitiv ein wenig an sein Stellungsspiel korrigiert haben - spätestens bei solchen Korrekturversuchen kommt es aber zu Ungenauigkeiten.


Den Flash-Lag-Effekt können Sie / könnt Ihr hierselbst nachempfinden (lustigerweise benötigt die Darstellung den Flash-Player...). In der Darstellung markiert ein aufblitzender roter Punkt den Moment der Ballabgabe!

Mit den Themen Positionsspiel und Flash-Lag-Effekt im Kontext von Abseitsentscheidungen werden sich künftig auch separate, hier veröffentlichte Lehreinheiten beschäftigen.

Eine Abseitsposition allein ist allerdings noch kein Vergehen. Daher verlassen wir nun die Ebene der reinen Wahrnehmung und beschreiten die Ebene der Interpretation. Lag überhaupt ein aktives Eingreifen seitens Kalou vor?

Zu einem Abseitsvergehen kommt es nur dann, wenn ein Spieler in Abseitsposition zum Zeitpunkt, zu dem der Ball von einem Mitspieler gespielt oder berührt wird, aktiv am Spiel teilnimmt und dort auf verschiedene Weise eingreift.

Gemäß IFAB-Zirkular Nr. 3 (2016) ist ein Spieler in Abseitsstellung u.a. dann zu bestrafen, wenn „(…) er eine offensichtliche Aktion ausführt, die die Möglichkeiten eines Gegners beeinträchtigt, den Ball zu spielen.“

Eine Beeinträchtigung bezieht sich laut IFAB „auf die (potenzielle) Möglichkeit eines Gegners, den Ball zu spielen und umfasst auch Situationen, in denen die Bewegung eines Gegners, um den Ball zu spielen, durch den Spieler in Abseitsstellung verzögert, behindert oder verhindert wird“.

Grundsätzlich müssen wir zwei verschiedene Szenarien unterscheiden.

Szenario 1: Hradecki wurde im Moment des Ibisevic-Schusses von Kalou in seinen Abwehrmöglichkeiten behindert.

Seine Bewegungsfreiheit wäre durch Kalou zwar erheblich verzögert und eingeschränkt worden, was für „aktiv“ spricht. ABER: Ob es sich beim an sich passiven „auf-dem-Boden-Liegen“ um eine „offensichtliche Aktion“ handelt, darf angezweifelt werden. Und die ist gemäß IFAB-Dokument entscheidend.

So meint auf Anfrage auch Johannes Gründel, Kolumnist für wahretabelle.de:
Das Wort "Aktion" - im englischen Originaltext noch viel mehr als im deutschen Regeltext - impliziert ein aktives Tun. Auch die anderen Varianten des Eingreifens setzen ein aktives Tun voraus, die Ausnahme ist dabei nur die Sichtbehinderung, die sich ja auch gerade durch ihre Untätigkeit auszeichnen kann. Daher erscheint es naheliegend, dieses Erfordernis der "Aktivität" auch bei der offensichtlichen Aktion anzuwenden. Ein bloß passives Liegen ist eben gerade keine "Aktion" (Lateinisch: agere "tun" - derselbe Wortstamm wie "aktiv").“

Szenario 2: Hradecki wurde im Moment des Ibisevic-Schusses von Kalou nicht mehr behindert.

Dies legt das Bildmaterial eigentlich nahe: Hradecki war über Kalou gestiegen, der sich zwar in einer Abseitsposition befand, aber kein Vergehen begangen hatte. Denn für ein Abseitsvergehen braucht es eine Ballberührung durch einen Mitspieler. Und diese erfolgte durch Ibisevic erst zu dem Zeitpunkt, als Hradecki bereits über Kalou hinübergestiegen war und seine Bewegungs- und Abwehrfreiheit wiedererlangt hatte. Kalou hatte ihn also vielleicht vorher behindert - aber da war es noch nicht relevant.

Beide Szenarien sprechen also dafür, dass hier kein strafbares Abseits vorlag. Die richtige Entscheidung wäre es demzufolge gewesen, das Tor als Ergebnis eines Vorteils in Folge des an sich strafstoßwürdigen Vergehens anzuerkenne. Ohne Zweifel lässt diese Szene aber breite Interpretationsspielräume zu.


Absicht vs Effekt bei Stindls Treffer

Auch in Ingolstadt sorgte eine besondere Form des Eingreifens für Gesprächsstoff. Nach einer Ecke beförderte Lars Stindl den Ball mit seinem Unterarm ins Tor (s. Video). Das Schiedsrichtergespann um Christian Dingert wertete dies offenbar als unabsichtliches Handspiel. Eine Erläuterung der Situation findet sich in der Spieltagsanalyse von Collinas Erben. Der von den 'Erben' vertretenen Auffassung hat Lutz Michael Fröhlich inzwischen widersprochen.



So richtig sicher schien sich Stindl beim Torjubel auch nicht zu sein...


Grundlegend für die Beurteilung von Handspielen erscheint hier der Hinweis darauf, dass Handspiele stets aufEbene der Absicht beurteilt werden und der Effekt nur eine geringe oder gar keine Rolle spielt. Dies scheint sich dann zu ändern, wenn Tore durch allzu offensichtliche Handspiele erzielt werden (dazu später mehr).

Während bspw. bei der Klassifizierung der Schwere von Foulspielen in fahrlässig, rücksichtslos oder übermäßige Härte eher der Effekt des Vergehens entscheidend ist (z.B.: Auswirkung auf die Gesundheit des Spielers) und die Frage der Absicht eher irrelevant ist (siehe Matthew Leckies Kung-Fu-Tackle am vergangenen Wochenende), geht es bei der Beurteilung von Handspielen ausschließlich um die Frage, ob Absicht im Spiel war.

Erfahrungsgemäß ist eine absichtsorientierte Beurteilung von Vergehen oder Situationen stets schwieriger und mit mehr Interpretationsspielraum verbunden als jene Teile des Regelwerks, in denen rein effektorientiert zu beurteilen ist. Dies zeigt die Regeländerung bezüglich der sog. Dreifachbestrafung sehr eindrücklich: Bei Vergehen innerhalb es Strafraums, durch die eine offensichtliche Torchance verhindert wurde, besteht seit Juli 2016 die Möglichkeit, statt eines Platzverweises nur eine Gelbe Karte auszusprechen. Voraussetzung dafür ist ein ballorientierter Einsatz mit dem authentischen Versuch, den Ball zu spielen. Vor Juli 2016 war dies komplett irrelevant: Notbremse war Notbremse und somit Rot. Es wurde rein nach dem Effekt des Vergehens entschieden – nämlich der Vereitelung einer offensichtlichen Torchance.

Daher überrascht es auch bei Stindls Handspiel nicht, dass naturgemäß unterschiedliche Interpretationen aufkommen und sich auch Experten wie z.B. Thorsten Kinhöfer in der BILD (der das Handspiel zwar als unabsichtlich, das Tor aber dennoch als irregulär bewertet – hä?) oder Peter Gagelmann bei Sky (der zu Recht darauf hinweist, dass Stindl der Ball von dem Kopf eines Ingolstädters zunächst an seine Brust und erst dann an die Hand sprang) uneins.

Klar ist, dass Stindl den Ball zumindest aktiv ins Tor befördert hat. Aktiv in dem Sinne, als dass seine Hand den Ball in Richtung Tor steuert. Schaut man sich seinen missglückten Kopfballversuch in Gänze an, so merkt man allerdings, dass die Handbewegung typisch für eine Kopfballaktion war.

International ist indes ein klarer Trend dahingehend erkennbar, dass Tore, die durch Handspiele erzielt werden, eher abzupfeifen sind. Ein Paradebeispiel bietet das Kopfball-Hand-Tor von Neymar im Champions League Finale 2015 in Berlin, das durch das türkische Schiedsrichtergespann um Cüneyt Çakır aberkannt hat (s. Video 1, Video 2). Intern hat die UEFA dies später als vertretbare Entscheidung beurteilt. Ihr Argument: Die Fußballgemein-schaft möchte keine durch Handspiele erzielten Tore sehen. Daher greife hier die ungeschriebene Regel 18 – der Menschenverstand. Ob man der UEFA hier folgen muss und, muss jeder Verband und Schiedsrichter für sich beantworten.

Denn nicht nur auf den ersten Blick erscheint es nachvollziehbar, dass die Latte dafür, ein Handspiel als unabsichtlich zu werten, wenn daraus ein Tor erzielt wurde, ein Stück weit höher liegt als in anderen Situationen. Die Regeln sollten schließlich sinngerecht interpretiert werden - hier merkt Fröhlich nachvollziehbarerweise an, dass es schlicht kaum zu vermitteln ist, dieses Tor anzuerkennen. Genau das werden aber diejenigen anders sehen, die das fest verankerte Absichtsprinzip bei Handspielen nicht mal eben so ad acta legen wollen.

"Vertretbar" war die Entscheidung des Unparteiischengespanns in Ingolstadt – egal, ob man persönlich eher mit „regulär“ oder „irregulär“ sympathisiert.


Wissenschaftlich fragwürdige Studie

Das größte mediale Aufsehen im Zusammenhang mit Schiedsrichtern ereignete sich übrigens schon vor dem 22. Spieltag: In der vergangenen Woche ließ eine neue Studie der Universitäten Bielefeld, Pennsylvania und West Virginia aufhorchen. Ihr nicht zu dünn aufgetragener Titel: „Match Fixing and Sports Betting in Football: Empirical Evidence from the German Bundesliga“.

Der sich hinter dem Forschungsansatz (der übrigens schon Einiges über die grundlegende Einstellung der Autoren zu Schiedsrichtern verraten dürfte) befindende Vorwurf wiegt schwer: Vereinzelte Schiedsrichter werden mit erhöhtem Wettvolumen auf sog. Über- oder Unterwetten (mehr oder weniger als 2,5 Tore) in Zusammenhang gebracht. Aus mehreren Gründen erscheint die Studie mehr als fragwürdig.

1. Zweifelhafte Datenbasis

Die Datenbasis wirft einige Zweifel auf. In den untersuchten Spielzeiten von 2010/11 bis einschließlich 2014/15 wurden 1.530 Bundesligaspiele gespielt. Merkwürdigerweise wurden in der statistischen Analyse nur 1.251 Spiele berücksichtigt – also gerade einmal 82% aller Spiele. Die Autoren begründen leider an keiner Stelle, wieso die übrigen 279 Spiele nicht berücksichtigt wurden.

Seltsam erscheint auch die Darstellung der schiedsrichterspezifischen Daten auf Seite 17 ihres Papers (Tabelle 4). Demzufolge hätten 16 der 26 in dieser Zeit aktiven Schiedsrichter in den fünf untersuchten Spielzeiten mehr als 100 Spiele in der Bundesliga gepfiffen. Dies trifft jedoch nicht zu. Der einzige Unparteiische, der es in diesen Saisons jemals auf 20 Spiele pro Saison geschafft hat, ist Manuel Gräfe (20 Spiele in 2010/11). Alle übrigen Schiedsrichter brachten es maximal auf 19 Spiele pro Saison. Daraus folgt: 5x weniger als 20 Spiele macht nicht mehr als 100 Spiele.

Inwieweit die am Schulnotensystem angelehnten (und somit ordinal- statt metrischskalierten) aufgebauten Kicker-Noten nun der Inbegriff einer objektiven Leistungsbeurteilung sind (und vielleicht sogar statistische Modellannahmen verletzen), sei hier verziehen.

Bevor man sich mit möglichen Auswirkungen der Studie näher beschäftigt, müssten diese Dinge eigentlich eindeutig geklärt werden – denn ansonsten ist die Studie irrelevant. Prof. Deutscher, Erstautor der Studie, hat auf eine entsprechende diesbezügliche Anfrage von Schirilogie leider nicht reagiert.

2. Selektive Wahl der abhängigen Variable?

Will man mögliche Auffälligkeiten am Wettmarkt für einzelne Schiedsrichter untersuchen, so wäre die naheliegendste Lösung, die einfachen Wettquoten zu berücksichtigen. Dies haben die Autoren allerdings nicht getan – und zwar mit der Begründung, dass Über- oder Unterwetten subtilere und dadurch geeignetere Kandidaten möglicher Einflussnahmen seien. Das kann man so rechtfertigen und erscheint nicht unplausibel. Denkbar wäre auch, dass bei anderen Wettquoten bzw. Marktbereichen schlicht keine Auffälligkeiten zu finden waren und somit keine für die Autoren befriedigenden Ergebnisse herauskamen. Aber dies wäre natürlich reine Spekulation.

3. Keine Kausalaussagen möglich

Die verwendeten statistischen Modelle erlauben lediglich Wahrscheinlichkeitsaussagen und decken mögliche Zusammenhänge auf. Sie können aber keine Kausalitäten nachweisen, also keine Ursache-Wirkungs-Zusammenhängebelegen.

Die statistischen Modelle, die verwendet wurden, sind überdies ausreißeranfällig. Eine sog. Alphafehlerinflation steht ebenfalls im Raum – durch die dünne Darstellung des statistischen Vorgehens kann dies aber weder nachgewiesen, noch ausgeschlossen werden.
Bei der hohen Anzahl jeweils untersuchter Spiele sind zudem statistisch signifikante Ergebnisse häufiger zu erzielen. Interessanter wären daher Effektstärken – also Maße für die Größe gefundener Effekte. Dass die Autoren diese nicht angeben, ist überraschend: Schließlich gilt in der Forschung häufig „Signifikant, aber irrelevant“.

An mehreren Stellen weisen die Autoren zudem darauf hin, dass ihre Studie folglich auch nicht per se für Wettbetrug spräche. In einem Interview betont einer der Autoren daher: „Man beobachtet statistische Eigenschaften, die man auch erwarten würde, falls es Wettbetrug gäbe.“ Gemessen am reißerischen Studientitel, ist dies schon eine relativ kleinlaute und einschränkende Darstellung des Papers.

4. Keine Alternativerklärungen berücksichtigt

In welchen Spielen wird denn überhaupt verstärkt auf Über- oder Untertore gesetzt? Zum einen in Spielen, in denen womöglich ein Underdog zu Gast beim Tabellenführer ist. Zum anderen vielleicht in Spielen, die allgemein mehr im Interesse der Öffentlichkeit und Fußballfans stehen. Darunter fallen bspw. exponierte Spiele wie das Topspiel am Samstag Abend oder Derbies.

Die Erfahrung zeigt, dass es häufig dieselbenSchiedsrichter sind, die diese Spiele pfeifen. Schiedsrichter werden eben nicht zufällig zu bestimmten Spielen angesetzt. Denn wenn jemand wie Manuel Gräfe oder Felix Brych überwiegend Topspiele mit höherem Interesse an Wettmärkten leitet, dann überrascht es nicht, dass die von ihnen geleiteten Spiele im Vergleich zu anderen nach Schiedsrichtern sortierten Spielen statistisch bedeutsam auffallen. Wäre dies ein Beleg oder auch nur ein leiser Verdachtsmoment für einen etwaigen Wettbetrug? Keineswegs. 

Eine zufällige Zuweisung zu Spielen wäre für die statistischen Modelle eigentlich maßgebliche Voraussetzung. Ganz am Ende der Studie heißt es in einem Satz, auf den dann nicht weiter eingegangen wird: „Referees are not totally randomly assigned to games“. Sieh an. Diese Annahme hätte man im Vorfeld und bei der Untersuchung berücksichtigen können und müssen, bevor man die Gruppe der Schiedsrichter semi-anonymisiert und auf statistisch wie konzeptionell fragwürdige Art und Weise unter Generalverdacht stellt. Wenn dies das Ziel der Autoren war: Glückwunsch, wahrscheinlich gelungen. Im Gegensatz zu Stindls Handspiel würden hier Absicht und Effekt Hand in Hand gehen...


Literatur

Oudejans, R. R. D., Bakker, F. C., Verheijen, R., Gerrits, J. C., Steinbrückner, M., & Beek, P. J. (2005). How position and motion of expert assistant referees in soccer relate to the quality of their offside judgments during actual match play. International Journal Sport Psychology, 36, 3–21.

Nachspielzeit (DFB-Pokal): "Das ahndet doch eh niemand!" - Sich selbst erfüllende Prophezeiungen bei irregulären Strafstoß-Ausführungen

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Das gestrige Sonntagsspiel zwischen Eintracht Frankfurt und dem SC Freiburg lieferte für die einschlägigen Qualitätsgazetten, Schiedsrichterexperten bzw. Regelkundler und nicht zuletzt für den frustrierten Verlierer aus Frankfurt einige Munition (für die strittigen Szenen des Bundesligaspieltags sei auf Collinas Erben verwiesen). Weit weniger in der Öffentlichkeit standen hingegen die beiden Strafstöße im DFB-Pokal-Viertelfinale zwischen dem Hamburger SV und Borussia Mönchengladbach, die aus einem besonderen Grund überaus interessant erscheinen. Ein Plädoyer für ein konsequenteres Eingreifen bei Vergehen im Zuge von Strafstoßausführungen und eine Erklärung dafür, wieso das bislang so selten geschieht.


Die souverän verwandelten Elfmeter bei HSV-Gladbach waren aus Schiedsrichtersicht interessant


Nach einer recht ausgeglichenen ersten Hälfte nahm die Partie binnen weniger Minuten einen entscheidenden Verlauf. In der 52. Minute wurde zunächst Patrick Herrmann von HSV-Verteidiger Mavraj fahrlässig getroffen und ging daraufhin im Sechszehner zu Boden. FIFA-Schiedsrichter Marco Fritz zeigte nach kurzer Absprache mit seinem Assistenten korrekterweise auf den Punkt. Stindl verwandelte den fälligen Elfmeter souverän.

Nicht einmal zehn Minuten später - in der 60. Minute - war es diesmal Ostrzolek, der Jonas Hofmann im Strafraum zu Fall brachte. Auch hier gab der Unparteiische Strafstoß - eine wohl alternativlose Entscheidung, wenngleich die Zeitlupen aus ungünstigem Blickwinkel einen Kontakt nicht mit letzter Sicherheit bestätigen. Diesmal übernahm Raffael die Verantwortung und verwandelte noch souveräner als Stindl zuvor.

Schaut man sich die Ausführungen beider Strafstöße an, fällt Eines direkt auf: So mancher Spieler ist deutlich zu früh in den Strafraum hineingelaufen (> 7:20 im Video und 9:25 im Video).

Beim ersten Strafstoß waren es gleich neun Spieler (sechs Verteidiger, drei Angreifer), die zum Zeitpunkt der Ausführung bereits im Strafraum standen. Deutlich zu früh hineingelaufen waren drei von ihnen (das Trio links in der Nähe des Schiedsrichters). Beim zweiten Elfmeter stand nur noch einer deutlich im Strafraum: ein Gladbacher Angreifer: Jonas Hofmann. Letzterer hat in beiden Fällen förmlich Anlauf genommen und stand bei beiden Elfmetern gut 3-4 Meter im Strafraum.


Eine Regel, an die sich kaum jemand hält

Die Regel 14 schreibt vor, dass sich alle Spieler bei Strafstößen mindestens 9,15 Meter vom Strafstoßpunkt entfernt und dabei hinter ihm aufhalten müssen. Daran hält sich jedoch kaum jemand, so dass es inzwischen zur Gewohnheit geworden ist, dass sich bei der Ausführung von Strafstößen nicht nur der Angreifer und der Torhüter, sondern zusätzlich noch eine Horde hineinlaufender Angreifer und Verteidiger im Strafraum befinden. Bis zu einem gewissen Grad scheint zu frühes Hineinlaufen akzeptabel und Teil des Spiels zu sein - und der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass Schiedsrichter wohl kaum ein Zentimetermaß mit sich führen und jede minimale Übertretung erkennen können bzw. ahnden sollten (eine Wiederholungsorgie wie bspw. in diesem Spiel will schließlich auch niemand sehen). Wird es allerdings deutlich und signifikant, sieht die Sache anders aus.

Bei Vergehen gegen diese Regel muss der Schiedsrichter - abhängig von der Mannschaftszugehörigkeit der/des Sünder/s und dem Ausgang des Strafstoßes - einschreiten und den Strafstoß unter Umständen wiederholen lassen (gilt für die Strafstöße beim Spiel HSV-Gladbach) oder sogar einen indirekten Freistoß für die Verteidiger aussprechen.

Zu frühes Hineinlaufen ahndet allerdings kaum ein Schiedsrichter - und zwar häufig selbst dann nicht, wenn Angreifer oder Verteidiger bei einem verschossenen Elfmeter sogar einen (Positions-)Vorteil daraus ziehen (denn durch das zu frühe Hineinlaufen ist ein Spieler womöglich schneller an Ort und Schnelle, wenn der Ball von der Torwartparade zurück in den Strafraum prallt).

Ähnlich sieht es aus, wenn man sich die ein oder andere Torwartparade bei Elfmetern ansieht. Torhüter müssen bei der Ausführung des Strafstoßes zwischen den Torpfosten auf der Torlinie stehen bleiben. Viele Torhüter machen jedoch einen bewussten Schritt nach vorn, bevor der Schütze den Ball auch nur berührt. Daraus ziehen sie einen entscheidenden Vorteil: Je näher sie an den Schützen heran kommen, desto mehr verkürzen sie den Winkel. Dass sie dies durch kleine, subtile Trippelschritte machen, zeigt das folgende Video aus dem Champions League Achtelfinale zwischen ManCity und AS Monaco.


U.a. auf diese Weise haben Borussia Dortmund im Pokalspiel gegen Berlin das Viertelfinale erreicht (> s. Video) und der FC Sevilla die Europa League gewonnen (> s. Video). Festzuhalten gilt also auch hier: An die Regel, als Torhüter auf der Torlinie zu bleiben, hält sich kaum jemand.

Und das, obwohl es sich hierbei um ein zwingend verwarnungswürdiges Vergehen handelt, sofern der Torhüter den Ball hält. Zudem ist der Elfmeter in solchen Fällen unbedingt zu wiederholen. Auch hier gilt: Das pfeift leider kaum jemand. (Ausnahmen wie diese hier bestätigen in diesem Fall leider die Regel).


Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung

Natürlich mag man nun argumentieren, dass diese Sorte Regeln grundsätzlich dehnbar und der gesamte Bereich der Strafstoßübertretungen eher zu vernachlässigen (weil unwichtig) seien. Dem muss entgegen gehalten werden:

Bei Strafstößen geht es immer um Torerzielungen. Wo wenn nicht hier sollten Regeln ihre Anwendung mit der gebotenen Sorgfalt und dem nötigen Fingerspitzengefühl finden?

Ein Problem besteht darin, dass es einfach keine objektiven Kriterien dafür gibt, ab wann das verfrühte Hineinlaufen eines Spielers zu ahnden ist - denn wenn Einigkeit darüber herrscht, dass nicht schon der erste Zentimeter strafbar ist, was die Regel eigentlich so vorsieht, so braucht es eigentlich nachgelagerte Kriterien dafür, ab wann der Schiedsrichter selbst unter Beachtung von Sinn und Geist der Regeln eingreifen sollte.

Allerdings waren die hier beschriebenen Fälle jeweils eindeutig und von den Unparteiischen durchaus wahrnehmbar. Denkt man aus der Sicht von Schiedsrichtern, so sind in solchen Situationen ganz andere Gedanken von Bedeutung:

1. "Wird von mir überhaupt erwartet, dass ich hier ins Spielgeschehen eingreife? Es beschwert sich schließlich niemand - warum sollte ich mich hier unnötig in den Mittelpunkt drängen?"

2. "Das ist doch handelsüblich - das gibt es in jedem Spiel und niemand spricht darüber. Wenn ich den wiederholen lasse, wird über mich geredet. Dann kommen Analysen und Kommentare wie "Wenn er den wiederholen lässt, müsste es an jedem Spieltag fünf solcher Wiederholungen geben!". Lasse ich das Spiel laufen, wird niemand über die Szene sprechen."

3. "Werde ich als Pedant wahrgenommen, der die Regeln zu wörtlich nimmt, wenn ich den Strafstoß wiederholen lasse? Handele ich gegen den Geist des Sports, wenn ich die Regeln hier wortwörtlich anwende?"

4. "Will ich durch so eine Entscheidung wirklich ein Elfmeterschießen maßgeblich beeinflussen und in den Lauf der Dinge wegen ein paar Zentimeter eingreifen?"

5. "Vielleicht war die Strafstoßentscheidung schon an sich knifflig und hat zu enormen Protesten geführt - wenn ich jetzt noch einen gehaltenen Elfmeter wiederholen lasse, weil der Torhüter zu früh nach vorn gelaufen ist, fliegt mir womöglich das Stadiondach um die Ohren..."

6. "Das pfeift kaum ein Schiedsrichter - meine Kollegen würden es auch nicht ahnden. Ich würde in der Öffentlichkeit damit dann ziemlich allein da stehen."

Sämtliche Punkte beziehen sich auf die Außenwahrnehmung einer potentiellen Entscheidung, verfrühtes Hineinlaufen zu ahnden, durch die Spieler, Zuschauer oder Öffentlichkeit. Somit beeinflussen die Erwartungshaltung,die "da draußen" herrscht, sowie die womöglich eher als negativ abgeschätzten Konsequenzen einer solchen Entscheidung letztere mehr, als dies die den Unparteiischen leitenden Spielregeln eigentlich tun sollten.

Aus psychologischer Sicht ist daran auffällig, dass Schiedsrichter mit den oben beispielhaft dargestellten Annahmen und Einstellungen letztlich selbst dazu beitragen, dass sich in der Öffentlichkeit und bei den Spielern entsprechende Erwartungshaltungen formen, die die Schiedsrichter dann wiederum darin bestärken, entsprechend der Erwartungshaltung zu agieren und bei Strafstoßvergehen eben nicht einzugreifen.

Angelehnt an die Sozialpsychologie kann man hier von einer self-fulfilling-prophecy, also einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, sprechen: Die zu Beginn vorhandenen Annahmen oder Einschätzungen einer Person A - in unserem Fall ein Schiedsrichter - über ein Zielobjekt B (z.B. die Fußballöffentlichkeit) bewirken, dass sich dieselbe Person A entsprechend der Annahme verhält, was wiederum dazu führt, dass sich das Zielobjekt B erwartungsgemäß verhält und die ursprüngliche Annahme objektiv bestätigt werden. Dadurch wird die anfängliche Annahme, Prognose bzw. Prophezeiung zur Realität und verstärkt sich selbst.


Studie zur self-fulfilling prophecy (Rosenthal & Jacobsen, 1968) 

Die Forscher führten zu Beginn eines Schuljahres Intelligenztests mit Schülern durch und meldeten die Ergebnisse an ihre Lehrer mit dem Hinweis zurück, dass 20% der Kinder im kommenden Schuljahr besonders große Lernfortschritte zeigen, ja geradezu aufblühen würden. Der Clou dabei: Die durch die Forscher benannten Schüler wurden per Los bestimmt. Tatsächlich schnitt diese Schülergruppe in einer späteren, zweiten Intelligenzerhebung deutlich besser ab als ihre Mitschüler. Offenbar lenkten die Lehrer während des Schuljahrs ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf die von den Forschern zufällig benannten Schüler, was einen positiven Einfluss auf ihren Lernfortschritt nahm. Die völlig zufallsbasierte Prophezeiung wurde demnach durch erwartungskonformes Verhalten Realität.


In anderen Worten bedeutet dies: Durch die Annahme des Schiedsrichters, dass ein Eingreifen bei Strafstößen (z.B. ein Wiederholenlassen) nicht von der Öffentlichkeit und auch von sonst niemandem gewollt werde, trägt der Schiedsrichter durch sein Verhalten indirekt dazu bei, dass sich genau diese Erwartung in der Öffentlichkeit überhaupt erst bilden und festigen kann und konnte - eben dadurch, dass er das nicht ahndet und sich damit in eine Serie von vergleichbaren Fällen einreiht, wo andere Schiedsrichter das haben durchgehen lassen. Und wenn jeder einzelne Unparteiische davon überzeugt ist, dass das auch niemand sonst ahnden würde, verwechselt jeder einzelne Unparteiische Ursache und Wirkung.

Denn wenn "das niemand pfeift" - im Glauben, dass das eben niemand pfeift oder sehen will - dann führt dies eben genau dazu, dass Spieler, Trainer, Zuschauer und die mediale Öffentlichkeit womöglich denken: "Das pfeift ja eh niemand, also müssen wir uns darüber nicht aufregen!" oder "Wenn er den wiederholen lässt, müsste es an jedem Spieltag viele Wiederholungen geben!".

Die Abschätzung der Erwartungshaltung wird somit zur Realität, die den Schiedsrichter wiederum darin bestärkt, sich realitätskonform zu verhalten.




Den Kreislauf durchbrechen

Somit entsteht ein sichselbstverstärkender Kreislauf, der nur durch Präzedenzfälle schaffende, einschneidende Entscheidungen mit der nötigen Signalwirkung durchbrochen werden kann. Wichtig wäre hierfür eine klare Linie, die einheitlich in verschiedenen Spielern verschiedenster Spielklassen gefahren und bspw. vom DFB vorgegeben wird.

Schiedsrichter sollten vor Strafstößen und speziell vor Elfmeterschießen grundsätzlich die Spieler und die Torhüter präventiv daran erinnern, nicht zu früh hineinzulaufen bzw. auf der Torlinie zu bleiben. Prävention zahlt sich spätestens dann aus, wenn es trotzdem zu Übertritten kommt: Wenn der Schiedsrichter diese dann ahndet, bietet ihm sich eine akzeptanzstiftende Argumentationsgrundlage - denn schließlich hat er den betroffenen Spieler vorher auf mögliche Folgen hingewiesen.

Wenn im Bereich von Vergehen bei Strafstoßausführungen gerade auf Bundesligaebene eine einheitliche, berechenbare und konsequente Linie gefahren würde, so würde sich nach einiger Zeit dann wohl auch die Erwartungshaltung in der Fußballöffentlichkeit durch eine entsprechende Sensibilisierung verändern - so wie beispielsweise von allen Seiten akzeptiert wird, dass Freistöße wiederholt werden müssen, wenn der Ball noch nicht vollständig geruht hat, wäre es auch in puncto Strafstoßausführung denkbar.

Denn dass Torhüter oder Spieler womöglich einen unsportlichen und vielleicht spielentscheidenden Nutzen aus eindeutigen Regelübertritten bei Strafstößen ziehen, kann nicht im Interesse derjenigen sein, für die der Fußball gemacht ist.

Es wäre diesbezüglich also an der Zeit, dass Realität und Fakten von Schiedsrichtern statt von der Öffentlichkeit geschaffen werden.

Lehreinheit Nr. 4: Als Schiedsrichter effektiv kommunizieren - Grundlagen (1. Teil)

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Kommunikationsskills gehören zu den wichtigsten Fertigkeiten sehr guter Fußballschiedsrichter. Ob auf oder neben dem Platz, ob im Vorfeld, während oder im Nachgang eines Spiels, ob Spielern, Trainern, Zuschauern, Schiedsrichterbeobachtern oder anderen Verantwortlichen gegenüber – überall spielt Kommunikation eine zentrale Rolle, die maßgeblich zur Qualität und Akzeptanz einer Spielleitung beiträgt. Basierend auf theoretischen Modellen und praktischen Einblicken wird Schirilogie der Frage nachgehen, was Schiedsrichter beachten sollten, um möglichst klar, konsistent und effektiv zu kommunizieren. In dem vorliegenden 1. Teil werden hierzu die Grundlagen geschaffen.



Sehr gute Schiedsrichter kennzeichnet vor allem effektive Kommunikation


Kommunikation wird allgemein als ein Prozess verstanden, bei dem Nachrichten zwischen mindestens einem Sender und mindestens einem Empfänger ausgetauscht werden. Kommunikation ist demnach keine Einbahnstraße, sondern ein wechselseitiger Prozess.

Eine gute Orientierung, welche Merkmale Kommunikation kennzeichnen und welche Ansatzpunkte diese jeweils für Schiedsrichter im Fußball bieten, geben die fünf sog. Axiome der Kommunikation nach Kurt Watzlawick.


1. Man kann nicht nicht kommunizieren

Nach Watzlawick besteht für Menschen keine Möglichkeit, nicht zu kommunizieren. Um eine bestimmte Nachricht über ein bestimmtes Verhalten zu senden, muss weder gesprochen, noch gehandelt werden. Auch Schweigen und Nicht-Handeln drücken etwas aus und senden dem Gegenüber eine bestimmte Botschaft – vielleicht nicht unbedingt auf Inhalts-, aber zumindest auf Beziehungsebene.

Für eine schiedsrichterbezogene Betrachtung bedeutet das:

Offenbar lässt sich Kommunikation nicht vermeiden. Sie ist in jeder zwischenmenschlichen Interaktion anzutreffen – und somit auch in der komplexen Aufgabe des Fußballschiedsrichters, der es in seinen Spielen mit mindestens 22 unterschiedlichen Menschen zu tun hat. Daher ist es essentiell wichtig, sich als Schiedsrichter mit den eigenen Kommunikationskompetenzen auseinanderzusetzen und als Lehrwart bzw. Coach Möglichkeiten zu schaffen, eben diese auszubauen und zu schärfen (etwa durch Coaching, Seminare oder Trainings).


2. Kommunikation beinhaltet Inhalts- und Beziehungsaspekte

Kommunikation als Ganzes erstreckt sich nicht nur auf den inhaltlichen Gehalt einer Botschaft. Viel wichtiger sind Beziehungsaspekte – sie schaffen die Grundlage für die Aufnahme der Botschaft. Sie liegen meist im Verborgenen, manchmal gar im Unbewussten. Dies veranschaulicht das sog. Eisbergmodell auf vereinfachte Art und Weise (s. >Darstellung): Demnach hat die nach außen hin sichtbare Spitze des Eisbergs – also der sachliche Aspekt der Kommunikation – einen relativ kleinen Anteil am Gesamtvolumen des Eisbergs – also der Kommunikation.



Das auch alltagspsychologisch bekannte Kommunikationsmodell nach Schulz von Thun (s.o.) suggeriert ebenfalls, dass eine Nachricht neben einer Sachebene maßgeblich Aspekte der Beziehung, eine Selbstoffenbarung und auch Appelle ausdrückt (hierzu in einem späteren Teil mehr).

Für eine schiedsrichterbezogene Betrachtung bedeutet das:

Korrekte Entscheidungen zu treffen ist das eine. Sie und womöglich hoch umstrittene Entscheidungen so zu kommunizieren, dass sie allseits akzeptiert werden, etwas völlig anderes. Genau dies zeichnet aber gute Schiedsrichter aus: Entscheidungen kraft ihrer kommunikativen Stärke auch auf Beziehungsebene effektiv zu "verkaufen".


3. Kommunikation baut aufeinander auf

Wechselseitige Kommunikation baut aufeinander auf – d.h. sie besteht aus Ketten von Beiträgen, Botschaften und Nachrichten, bei denen nicht immer eindeutig zu klären ist, welche Nachricht genau welche Nachricht bedingt oder kausal zur Folge hat (was also Henne und was Ei ist). Andersherum bedeutet dies, dass Kommunikation stets etwas beim Gegenüber bewirkt. Ein Beispiel dafür ist die hier diskutierte und in ihre Einzelelemente separierte Situation aus einem jüngeren DFB-Pokal-Spiel.

Für eine schiedsrichterbezogene Betrachtung bedeutet das:

Bei Kommunikation handelt es sich um ein folgenreiches Mittel der Steuerung und Einflussnahme, das angesichts ihrer Folgewirkungen maßvoll und adäquat eingesetzt werden sollte.


4. Menschliche Kommunikation besteht aus verbalen (digitalen) und non-verbalen (analogen) Aspekten

Kommunikation kann einerseits über verbale Kanäle – also durch Sprache und gesprochene Worte – und andererseits über non-verbale Kanäle – also durch Körpersprache, Parasprache und räumliche Beziehungen – ablaufen.

Die hier abgebildeten Kommunikationselemente werden in künftigen Lehreinheiten thematisiert


Sprache umfasst dabei ausschließlich das gesprochene Wort – nicht aber, wie es gesprochen wird. Körpersprache beinhaltet hingegen Gestik, Mimik sowie die Körperhaltung. Parasprache bezeichnet hingegen all jene Kommunikationselemente, welche die Sprache auf vokaler Ebene begleiten – also z.B. der Tonfall. Unter räumlichen Beziehungen ist das Nähe-Distanz-Verhalten einer Person zu ihrem Interaktionspartner gemeint.

Wissenschaftliche Untersuchungen (z.B. Mehrabian, 1968, nach Weinberg & Richardson, 1990) haben mehrfach gezeigt, dass Körpersprache (55%) und Parasprache (38%) zusammen mehr als 90% aller Botschaften bestimmen und prägen, während auf das gesprochene Wort nur 7% entfallen.

"Mit Körpersprache und Mimik kommt man sehr weit. Wenn ein Spieler über die Stränge schlägt, zeige ich ihm mit einem Augenaufschlag, dass ich wütend bin. Natürlich bin ich nicht wirklich wütend, aber ich habe da mein schauspielerisches Repertoire. Gesichtsausdrücke sind universell – ich kann schwedisch sprechen und mit meinem Körper deutlich machen, was ich sage. Vor zehn Jahren pfiff ich ein Spiel zwischen einer lettischen und einer russischen Mannschaft. Niemand sprach Englisch, aber ich machte mich mit Händen und Füßen verständlich. Genauso kommuniziere ich heute mit den Spielern von Milan oder Barca in der Champions League." (Quelle: 11Freunde)
UEFA-Elite-Schiedsrichter Jonas Eriksson im 11Freunde-Interview - wie das aussehen kann, zeigt die folgende Slideshow (am besten mal durchklicken...):


Für eine schiedsrichterbezogene Betrachtung bedeutet das:

Effektive Kommunikation bedeutet für Schiedsrichter also nicht nur, die richtigen Worte zu finden, sondern bspw. auch den richtigen Ton. Ferner kommt der eigenen Körpersprache eine enorm wichtige Bedeutung zu: Variantenreiche und situativ angebrachte Gestik und Mimik sowie ein hohes Maß an Körperspannung haben die Kraft, getroffene Entscheidungen und bspw. ausgesprochene Ermahnungen oder Verwarnungen zu unterstreichen. Hinzu kommen parasprachliche Aspekte des Tonfalls und – im Zusammenhang mit Schiedsrichtern häufig unterschätzt – ein situationskalibrierter Einsatz der Pfeife (umgangssprachlich wird dies in Schiedsrichterkreisen auch „Pfeifsprache“ genannt).

Es gilt also, Schiedsrichter für eben diese Kommunikationselemente zu sensibilisieren und letztere intensiv in Schiedsrichterbeobachtungen und -coachings zu berücksichtigen. Schiedsrichter sollen dadurch ein Bewusstsein dafür erlangen, wie sie die sachliche Ebene einer Entscheidung mittels verschiedener Kommunikationselemente positiv unterstützen können.


5. Zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind symmetrisch oder komplementär

In komplementären Beziehungen – also z.B. Beziehungen zwischen einem Vorgesetzten und einem ihm unterstellten Mitarbeiter – wird selbstverständlich anders kommuniziert als in symmetrischen Beziehungen – also in Beziehungen zwischen formell oder informell gleichrangigen Personen.

Für Schiedsrichter ist dies …

… ein Balanceakt: Auf der einen Seite sollten sie in ihrem Umgang mit Spielern uns Vereinsvertretern empathisch und nahbar umgehen. Dementsprechend sollte eine Kommunikation auf Augenhöhe grundsätzlich angestrebt werden. Auf der anderen Seite herrscht per Regelwerk eine eher komplementäre Beziehung zwischen "handlungsgewaltigen" und weisungsbefugten Unparteiischen und den am Spiel beteiligten Akteuren, die in der Konsequenz zu hierarchischen Unterschieden führt, welche sich wiederum auch in Aspekten der Interaktion äußern (bspw. stellen manche Schiedsrichter auf eigene Initiative viel Körperkontakt zu Spielern her - etwa bei Ermahnungen - während dies andersherum in derselben Weise kaum denkbar wäre).

Daher ist es entscheidend, die richtige Balance zwischen Nähe und Distanz, zwischen Bescheidenheit und Direktheit  in der Kommunikation herzustellen. Ansatzpunkte hierfür lieferte bereits eine frühere Lehreinheit zum Thema Spielerführung.


Auf den somit geschaffenen Grundlagen wird in künftigen Lehreinheiten und Folgeteilen schrittweise aufgebaut!


Literatur

Weinberg, R. & Richardson, P. (1990). Psychology of Officiating. Champaign, IL: Human Kinetics Publishers.

Nachspielzeit (24. Spieltag): Abseits mit Verspätung - warum beim 1. Hamburger Treffer die Fahne zunächst unten blieb

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Die letzte Begegnung des zurückliegenden 24. Bundesligaspieltags zwischen dem Hamburger SV und Borussia Mönchengladbach hatte es aus Schiedsrichtersicht noch einmal in sich. Besonders interessant ist dabei der erste vermeintliche Ausgleichstreffer, der nach kurzer Beratung zwischen dem Schiedsrichter und Assistenten aberkannt wurde. Und wenn der böhmische Adel in der Kommentatorenbox mit einem Hauch Verzweiflung in der Tonlage bekundet "Warum hebt er die Fahne nicht? Warum hebt er die Fahne nicht? Ich ver-steeeh das nicht!", so besteht ganz offensichtlich Klärungsbedarf. Kurzum: Die Szene ist ein Musterbeispiel für effektives Teamwork. 


Es lief die 28. Spielminute (s. Video). HSV-Angreifer Aaron Hunt steckte den Ball in zentraler Position zum freistehenden Lewis Holtby durch, der den Ball mit einem kurzen Abpraller zu Albin Ekdal abtropfen ließ. Ekdal lief dem Ball hinterher, nahm ihn an und passte nochmal zum ebenfalls freistehenden Bobby Wood, der den Ball problemlos im Tor versenkte. Die Fahne war unten geblieben. Die Hamburger jubelten bereits an der Eckfahne, die Tormusik war bereits in vollem Gange, doch Schiedsrichter Deniz Aytekin lief nach draußen zu seinem Assistenten Eduard Beitinger. Nach kurzer gemeinsamer Beratung hob Aytekin die Hand und erkannte das Tor wegen Abseits ab.

Ekdal befand sich im Moment der Ballabgabe tatsächlich in einer Abseitsposition, die dadurch strafbar wurde, indem Ekdal aktiv ins Spielgeschehen eingriff. 

Die ursprüngliche Abseitsposition wahrzunehmen, war für den Schiedsrichterassistenten keine große Herausforderung: Er war gut positioniert, die Abseitsposition war zwar knapp, aber dennoch deutlich zu erkennen. Wieso also diese Verzögerung?

Ohne Frage ist es aus Schiedsrichtersicht nie erwünscht, bei einem Team kurzfristige Freude über und Hoffnungen auf einen Torerfolg aufkommen zu lassen und diese dann mit einer halben Minute Verzögerung zu erlischen.

Dennoch handelten die Unparteiischen genau so, wie es erwartet wird und korrekt ist - denn der Clou dieser Szene bestand in etwas, das über die eigentliche Wahrnehmung der Abseitsposition hinausging:

Für den Schiedsrichterassistenten war aus seinem Blickwinkel nicht zweifelsfrei zu erkennen, ob der sich im Abseits befindende Ekdal den Ball von einem Mitspieler (Holtby) oder einem Verteidiger bekam. Um Ekdal herum befanden sich zwei bis drei Gladbacher Verteidiger, die den Assistenten angesichts der räumlichen Nähe und hohen Spielgeschwindigkeit vermutlich irritierten und offenbar Zweifel hervorriefen. Denn wenn es ein Verteidiger gewesen wäre, der den Ball missglückt, aber doch durch eine kontrollierte Aktion gespielt und auf Ekdal weitergeleitet hätte, wäre Ekdals Abseitsposition nicht strafbar gewesen.

Der Assistent besaß somit nicht alle für eine Entscheidung relevante Informationen. Dass eine Abseitsposition vorlag, wusste er. Auch, dass ein aktives Eingreifen vorlag. Die Ballabgabe war jedoch unklar. Manchmal haben Assistenten durch ihren 90°-Blickwinkel eben nicht den nötigen Einblick in Situationen, bei denen mehrere Spieler unterschiedlicher Teams in räumlicher Nähe um den Ball kämpfen oder ihn sogar spielen. 

Der Schiedsrichter hingegen ist dazu häufig sehr wohl in der Lage: Ihm steht die Information "Abseitsposition" zwar nicht zur Verfügung, dafür aber das notwendige Puzzleteil, das seinem Assistenten vielleicht fehlt: Nämlich das Wissen darüber, von wem der Ball kam, gespielt oder berührt wurde. Hierüber müssen sich Schiedsrichter und Assistent entsprechend austauschen, die Informationen zusammentragen und zu einem Urteil kommen.

Vom wem kam der Ball? Dieses Puzzleteil fehlte dem Assistenten - der Schiedsrichter besaß es
Bildquelle: © Pixabay

Selbstverständlich können sie dies nicht einfach im laufenden Spiel machen: Auf Verdacht und Zweifel hin einen Angriff abzupfeifen bzw. mit der Fahne abzuwinken ist keine Option. Denn wenn sie dann feststellen, dass der Ball von einem Verteidiger kam und somit keine strafbare Abseitsposition vorlag, hätten sie einen aussichtsreichen Angriff zunichte gemacht. Eine solche Beratung sollte also erst dann erfolgen, wenn wirklich ein Tor erzielt wurde (aber natürlich noch vor dem Anstoß).

Anhand von Aytekins und Beitingers Beratung an der Seitenlinie können für solche Formen des Teamworks wichtige Schritte identifiziert werden:


1. Wahrnehmung

In einem ersten Schritt müssen der Schiedsrichter und Assistent die Situation wahr- und alle relevanten Informationen - soweit möglich - aufnehmen. Der Assistent nimmt die Abseitsposition wahr, weiß aber nicht, von dem der Ball kam. Der Schiedsrichter hat die Szene aufmerksam verfolgt und besitzt die Information, von wem der Ball kam.


2. Wait-and-See

Bei der Wahrnehmung der Spielsituation treten für den Assistenten also Zweifel auf. Jetzt gilt es, erst einmal abzuwarten und zu sehen, was passiert ("wait-and-see") - also das Spiel weiterzuverfolgen und erst dann die inneren Zweifel an die Oberfläche zu befördern, wenn der Fortgang der Situation dies erfordert (also hier die Torerzielung). 


3. Standing-Still-Technik

Der Assistent hat den weiteren Verlauf der Situation verfolgt und sieht, dass ein Tor erzielt worden ist. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, sich mit dem Schiedsrichter auszutauschen und Informationen sowie Zweifel über die Strafbarkeit der Abseitsstellung auszutauschen.

Hierzu sollte er eine in UEFA-Kreisen mit "Standing-Still-Technique" beschriebene Prozedur verfolgen: Statt 20-25 Meter in Richtung Mittelfeld zu sprinten, wie es Assistenten nach Toren üblicherweise machen, sind Assistenten dazu angehalten, in genau solchen Fällen von Zweifeln stehen zu bleiben, also "still" zu stehen. Dadurch sieht der Schiedsrichter, der normalerweise nach Toren zu seinem Assistenten herausblickt, um eine Bestätigung über die Korrektheit eines Treffers zu erhalten, dass sein Kollege offenbar Zweifel hat, die diskutiert werden sollten. Genau dies hat Beitinger getan.


4. Den Schiedsrichter zu sich herausrufen

Zeitgleich sollte der Assistent seinen Chef über Blickkontakt, diskrete Gestik und/oder Headsetkommunikation bitten, zu ihm herauszukommen.


5. Sich von Spielern isolieren

Da es in solchen Szenen in der Regel um Fragen von "Tor" oder "kein Tor" geht, werden Spieler beider Teams höchstwahrscheinlich versuchen, Einfluss und Druck aus das Gespann auszuüben. Daher ist es wichtig, dass der Schiedsrichter dafür sorgt, dass er sich mit seinem Assistenten über die Situation in der nötigen Ruhe austauschen kann: Dazu ist eine Isolation von den Spielern nötig.


6. Sich austauschen und diskutieren

Nun sollte der Assistent in präzisen Sätzen und Fragen darstellen, was er wie wahrgenommen hat, welche Zweifel er hat und wovon genau es abhängt, ob die Entscheidung A (bspw. Tor, kein strafbares Abseits) oder die Entscheidung B (kein Tor, strafbares Abseits, indirekter Freistoß) getroffen werden muss. Der Schiedsrichter sollte seinem Kollegen die nötigen Informationen nennen, dadurch die Zweifel ausräumen und die Situation entsprechend der neuen Informationen diskutieren. Jetzt, wo alle Informationen bereitstehen, kann eine Entscheidung getroffen werden.

Genau das taten Aytekin und Beitinger. Sie tauschten sich erst in Ruhe und von den Spielern einigermaßen isoliert aus (vielleicht wäre noch mehr Distanz ideal, hier war die Einflussnahme durch Papadopoulos und Co. aber noch vergleichsweise gering). Unter Berücksichtigung der neuen Information "Ball kam vom Angreifer" konnte ihm Beitinger dann mit der nötigen Sicherheit bekräftigen "Dann ist es Abseits!" (jedenfalls, wenn mein Lippenlesen korrekt ist).


7. Entscheiden

Auf Basis aller relevanten Informationen wird die Entscheidung nun in klarer und bestimmter Weise getroffen. Der Schiedsrichter hebt seine Hand, um den indirekten Freistoß für das Abseitsvergehen anzudeuten. Zusätzlich kann der Assistent noch symbolisch die Fahne heben, und dann zur Abseitsposition senken (siehe diese vergleichbare Szene aus einem Champions-League-Spiel zwischen dem FC Basel und FC Porto).


8. Erklären

Da solche Situationen für Spieler und nicht zuletzt die Zuschauer kaum zu verstehen sind, sollten sich Schiedsrichter darum bemühen, die Entscheidung in verständlicher und ruhiger Art zu erklären und mit effektiver Körpersprache gut zu verkaufen. Der Vierte Offizielle - sofern vorhanden - kann hier ebenfalls helfen und die Entscheidung Trainern und Teamoffiziellen erläutern (wie in der obigen Szene bei Basel - Porto geschehen).


Diese Schritte haben Deniz Aytekin und Eduard Beitinger mustergültig beherzigt und sind dadurch zur richtigen Entscheidung gekommen. Dass dies etwas gedauert hat, ist der Preis, den man für die korrekte Entscheidung in Kauf nehmen muss. Denn Sicherheit und Korrektheit gehen im Zweifel vor Schnelligkeit oder, wie Moliere einst gesagt hat: 

"Unreasonable haste is the direct road to error."
MOLIERE


Der Adel hatte für die Beratung an der Seitenlinie indes seine ganz eigene Erklärung: Fritz von Thurn und Taxis, Sky-Urgestein und sicherlich begabter Eishockeykommentator - wähnte sich einmal mehr in Hörweite von Spielern und Schiedsrichtern: "Aytekin (...) ist nochmal raus und hat gesagt 'Junge, was war denn da los? Hast du die Fahne vergessen, oder was?'" - nur gut, dass Sky-Schiedsrichter-Experte Peter Gagelmann in der Halbzeitpause sein Bestes dabei gab zu retten, was noch zu retten war...

Was nach der Szene folgte, war ebenfalls bemerkenswert: Nachdem Beitinger einen weiteren Hamburger Treffer wegen Abseits korrekterweise aberkannt hatte, wagten die Hanseaten beim 3. und endlich regulären Torerfolg kaum zu jubeln. Alle blickten - demonstrativ erstarrt - zum Schiedsrichter, der diesmal nichts zu beanstanden hatte. Scheinbar hatten auch die Hamburger in der Zwischenzeit gelernt: "Unreasonable haste is the direct road to error"... der Schiedsrichter nahm es mit Humor.

Blick in die Forschung: Gewalt gegen Schiedsrichter - Einzelfälle oder an der Tagesordnung?

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In Niedersachsen streiken Schiedsrichter, nachdem ein Verbandssportgericht ein Urteil in Folge einer Schiedsrichterbeleidigung wieder aufhebt. In einem Derby der Hamburger Kreisliga 1 wird ein Schiedsrichter mit Schlägen und Tritten angegangen, woraufhin das Spiel abgebrochen wurde und 16 Streifenwagen anrückten. Und vor nicht allzu langer Zeit wird ein niederländischer Schiedsrichterassistent von mehreren Teenagern zu Tode getreten. Alles nur Einzelfälle? Oder ist Gewalt gegen Schiedsrichter heutzutage vielmehr an der Tagesordnung?

Schiedsrichter als Projektionsfläche eigener spielerischer Versäumnisse

Schiedsrichter haben die komplexe und manchmal undankbare Aufgabe, 22 emotionsgeladene Spieler unter ihrer Kontrolle zu behalten und akkurate sowie möglichst akzeptierte Entscheidungen zu fällen. Häufig besitzen ihre Entscheidungen spielbeeinflussenden, manchmal gar -entscheidenden Einfluss.

Gerade bei Niederlagen bietet es sich für Spieler, Trainer und Vereine daher an, Referees als Projektionsfläche eigener spielerischer Versäumnisse zu nutzen. In der Regel bleibt es bei Kritik - aber nicht immer: Manchmal kommt es zu Gewalt – ein Begriff, der schwierig zu definieren und abzugrenzen ist. Im Zusammenhang mit Schiedsrichtern ist darunter wohl am ehesten ein tätlicher Angriff gemeint. Doch das Spektrum der Grenzüberschreitung ist weitaus breiter und umfasst auch verbal geäußerte Beleidigungen oder Bedrohungen.

Die Thematik der Gewalt dominiert inzwischen die mediale Berichterstattung im Zusammenhang mit Schiedsrichtern auf Amateurebene. Gefühlt wöchentlich machen Schlagzeilen über Spielabbrüche in Folge von Tätlichkeiten gegen Referees die Runde. So ist davon auszugehen, dass entsprechende Vorfälle eine abschreckende Wirkung auf aktive Unparteiische und vor allem potenzielle Schiedsrichterneulinge haben. Deshalb warnt auch Pierluigi Collina, UEFA- und neuerdings auch FIFA-Schiedsrichter-Chef, vor einem "globalen Schiedsrichtermangel" als Folge zunehmend fehlenden Respekts gegenüber Unparteiischen. 

Einzelfallmeldungen - so besorgniserregend, frustrierend und tragisch sie auch sein mögen - besitzen allerdings keine repräsentative Aussagekraft. Es ist deshalb wichtig, eine belastbare empirische Datenbasis herzustellen. Um ein möglichst objektives Bild zu erzeugen, sind Befragungen mit großen Stichproben und einer ausreichend großen Streuung in Bezug auf Geschlecht, Alter und Herkunft von Vorteil.

Der oben aufgeworfenen Frage, ob es sich bei Gewalthandlungen gegen Schiedsrichter eher um Einzelfälle oder die Regel handele, widmeten sich in der Vergangenheit daher in der Tat einige wissenschaftlich durchgeführte Befragungen aus dem In- und Ausland.


Stand der Forschung: Selten tätlich angegriffen, häufig beleidigt

Vester (2013) näherte sich dem Thema in Kooperation mit dem Württembergischen Fußballverband (wfv) und befragte rund 2.600 Schiedsrichter.

Die Autorin konnte zeigen, dass nur 13,4% der Befragten im Zuge ihrer Schiedsrichtertätigkeit noch nie beleidigt wurden. Bereits mindestens einmal bedroht wurden hingegen 38,2% der Teilnehmer. 82,7% der befragten Schiedsrichter gaben zudem an, noch nie Opfer von tätlichen Angriffen geworden zu sein. Die allermeisten Unparteiischen - weit mehr als 90% - fühlten sich auf dem Fußballplatz außerdem ziemlich sicher.

Rullang, Emrich und Pierdzioch (2015) erhoben vergleichbare Werte in einer bundesweiten Studie mit rund 4.800 Unparteiischen. Auch hier zeigte sich, dass Schiedsrichter in ihrer bisherigen Laufbahn sehr häufig beleidigt (nur 5,2% der Befragten gaben an, noch nie beleidigt worden zu sein), gelegentlich bedroht (57,7% gaben an, sehr selten bis sehr häufig bedroht worden zu sein), aber während ihrer bisherigen Laufbahn nur selten tätlich angegriffen wurden (79,7% gaben an, noch nie tätlich angegriffen worden zu sein). Die Autoren konnten zudem zeigen, dass Schiedsrichter, die zum Zeitpunkt der Befragung selbst aktiv Fußball spielten, eine signifikant niedrigere Belastung durch Beleidigungen, Bedrohungen und Gewalt empfanden als jene Unparteiische, die selbst nie aktiv Fußball gespielt hatten.

Folkesson, Nyberg, Archer und Norlander (2002) wiesen anhand einer Stichprobe von schwedischen Amateurschiedsrichtern außerdem nach, dass jüngere Schiedsrichter häufiger Bedrohungen und Aggressionen ausgesetzt sind als ältere Kollegen.

Abbildung: Gegenüberstellung der Befragungsergebnisse ausgewählter Studien. 


Allerdings sind Schiedsrichterlaufbahnen unterschiedlich lang und umfassen je nach Individuum unterschiedlich viele Spiele. Sie stellen für sich genommen daher kein hinreichendes Maß dar, wenn es darum geht, die relative Häufigkeit von Gewaltvorkommnissen gegen Unparteiische abzuschätzen.
Des Weiteren besteht bei solchen Studien das Problem, dass in der Regel nur aktive Schiedsrichter befragt werden - diejenigen, die ihre Laufbahn gerade aufgrund von Gewalterfahrungen beendet haben, werden statistisch somit nicht erfasst. Aus diesen Gründen lohnt es sich, weitere Statistiken heranzuziehen.

Nach Angaben des DFB wurden in der Saison 2015/16 über das DFBNet – für alle Nichtschiedsrichter: dabei handelt es sich um das Portal, über das die Spielberichte nach den Spielen von den Referees hochgeladen werden – insgesamt 1.581.197 Partien freigegeben. In 3.717 Spielen habe es Gewalthandlungen gegeben. Dies entspricht 0,24% der Spiele – oder anders ausgedrückt: In jedem 425. Spiel kam es zu einer Gewalthandlung (wobei unklar bleibt, ob es sich hierbei ausschließlich um Gewalthandlungen gegen Schiedsrichter handelte). Von den 3.717 Spielen wurden weiterhin (nur) 589 abgebrochen.

Tatsache ist also: In der überwältigenden Mehrheit der Spiele kommt es zu keinen tätlichen Angriffen gegen Schiedsrichter und die allermeisten Unparteiischen sind in ihrer bisherigen Laufbahn noch nicht Opfer von Gewalthandlungen geworden. Dementsprechend kann vermutet werden, dass die Wurzeln dieses dennoch nicht zu unterschätzenden Problems anscheinend nicht systematischer Natur sind, sondern wahrscheinlich stark vom Profil des individuellen Spielers bzw. Täters abhängen.

Und trotzdem: Wenn jeder 7. Schiedsrichter schon einmal Gewalt gegen sich erlebt hat und wenn es durchschnittlich an etwa an jedem bzw. jedem zweiten Wochenende eines mittelgroßen Fußballkreises zu einem solchen Vorfall kommt, spricht dies dagegen, dass es sich hierbei bloß um Einzelfälle handelt.

Szenen wie diese sind statistisch gesehen (glücklicherweise) eher eine Seltenheit


Im Fall verbaler Bedrohungen oder klassischer Schiedsrichterbeleidigungen, die gemäß der Datenlage so gut wie jeder Schiedsrichter schon einmal erlebt hat, dürfte es sich in jedem Fall um ein systematisches Problem handeln: Diesbezüglich kann ein womöglich genereller Verfall von Respekt auf und neben dem Platz beobachtet werden, den auch der ehemalige Bundesligaschiedsrichter Knut Kircher unlängst in einem Interview anprangerte. Und dieser spiegelt sich zweifelsohne auch im Verhalten einzelner Trainer und Manager auf Bundesligaebene mit einer nicht zu unterschätzenden Strahlkraft auf untere Ligen wider (s. Video).


Das Thema weder unter- noch überschätzen

Trotz der Schwere und Tragik jedes einzelnen Falls einer Tätlichkeit gegen einen Unparteiischen sollte mit dem Thema und entsprechenden Schlagzeilen nicht (nur) emotional, sondern vor allem besonnen umgegangen werden: Gewalttaten gegen Schiedsrichter sollten nicht unter-, aber in ihrer Auftretenshäufigkeit und -wahrscheinlichkeit auch nicht überschätzt werden. Verharmlosung und Hypen sind also jeweils gleichermaßen unangebracht.

Verbände und Vereine sollten bei aller Berechtigung und Notwendigkeit der Gewaltbekämpfung auch die Thematik der Schiedsrichterbeleidigung, also der verbalen Aggression, auf ihre Agenda setzen und sich von einer ausschließlich eindimensionalen Betrachtung auf tätliche Angriffe lösen.

Hilfreich oder zumindest diskutabel erscheinen auch Überlegungen wie schnellere Verwarnungen, Zeitstrafen oder gar Platzverweise als Strafe für vehementes Protestieren und Reklamieren, wie sie auch Pierluigi Collina vorschlägt. Auf diese Weise könnte respektlosem und aggressivem Verhalten gegenüber Schiedsrichtern wie Beleidigungen oder gar (Androhungen von) Gewalt bereits auf einer niedrigeren Stufe unter Umständen ein Riegel vorgeschoben werden.

Letztlich hängt dies aber auch davon ab, wie konsequent Schiedsrichter gegen Protestieren oder auch Beleidigungen vorgehen - gerade im Profifußball mit seiner Signalwirkung "nach unten". So betont Collina im Video-Interview mit SkySports auch die Eigenverantwortung der Spitzenschiedsrichter, früheste Anzeichen von Grenzüberschreitungen (z.B. bei Massenprotesten, dem sog. "Mobbing") vor allem unter dem Aspekt der Vorbildsfunktion konsequent aus dem Spiel zu nehmen und mit den richtigen Maßnahmen zu ahnden (anders als in diesem Videobeispiel aus der WM-Qualifikation).

Kampagnen und Maßnahmen mit der Zielsetzung, den gegenseitigen Respekt fördern, sind darüber hinaus begrüßenswert. Ob ein kollektives Handshake, Fairplaybanner oder entsprechende Werbeaktionen vor Champions League Spielen tatsächlich Beleidigungen oder gar Gewalthandlungen verhindern, darf allerdings angezweifelt werden, wenn mitunter lasche Sanktionen die Glaubwürdigkeit solcher Aktionen untergraben. Letztlich sind es gelegentlich Verbandsausschüsse, die der meist ausgesprochenen Rote Karte durch in den Augen vieler Schiedsrichter häufig zu milde Strafen ihre Signalkraft rauben. Dass es auch anders geht, zeigt der Fall in Hamburg: Der verantwortliche Verein wurde inzwischen aus dem Verkehr gezogen ...


Literatur

Folkesson, P., Nyberg, C., Archer, T. & Norlander, T. (2002). Soccer referees‘ experience of threat and aggression: Effects of age, experience, and life orientation on outcome of coping strategy. Aggressive Behavior, 28(4), 317-327.

Rullang, C., Emrich, E. & Pierdzioch, C. (2015). Wie häufig werden Schiedsrichter Opfer von Beleidigungen, Drohungen und Gewalt? Ergebnisse einer bundesweiten Umfrage unter aktiven Schiedsrichtern. Leipziger Sportwissenschaftliche Beiträge, 56(2), 44-66.

Vester, T. (2013). Zielscheibe Schiedsrichter. Zum Sicherheitsgefühl und zur Opferwerdung von Unparteiischen im Amateurfußball. Baden-Baden: Nomos.

Handspiel im Revierderby: Pro und Contra Absicht - eine Gegenüberstellung

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Dortmund-Verteidiger Marc Bartras Handspiel hat das 150. Revierderby maßgeblich geprägt. Ob hier Absicht vorlag, wurde in den Medien bereits kontrovers diskutiert. Schiedsrichter Felix Zwayer, der sich gegen einen späten Strafstoßpfiff für Schalke entschied, gab in Interviews später an, dass hier keine Schwarz-Weiß-Situation vorgelegen habe.


Die folgende Übersicht zeigt: Recht hat er. Für beide Seiten gibt es gute Argumente, so dass wir uns in einem Graubereich befinden (für bessere Qualität bitte die Grafik anklicken):


Anmerkung: Eine vollständige Spieltagsanalyse folgt wie üblich in den kommenden Tagen.

Nachspielzeit (26. Spieltag): Kriterien zur Beurteilung der Strafbarkeit von Handspielen

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Das zurückliegende Fußballwochenende war vor allem von einer Frage geprägt: Absicht oder keine Absicht? Gleich in mehreren Spielen, Stadien und Ligen gab es zum Teil knifflige Situationen aus dem Bereich Handspiel mit entsprechenden Diskussionen nach Abpfiff. Thomas Tuchel bringt das weit verbreitete Gefühl auf den Punkt. Auf das Handspiel von Marc Bartra angesprochen, meinte Tuchel sinngemäß, dass er der falsche Ansprechpartner sei, da er überhaupt nicht mehr wisse, wann es Absicht ist und wann nicht. Ein Klärungsversuch, der hoffentlich erfolgreicher ist als der von Marc Bartra, Oscar Wendt und co.



Wie die Regel aussieht

Gemäß Regel 12 liegt ein Handspiel nur dann vor, wenn "ein Spieler den Ball absichtlich mit der Hand oder dem Arm berührt" (S. 84).

Um ein Urteil über den Grad der Absicht fällen zu können, werden den Schiedsrichtern durch das Regelwerk folgende Punkte zur Berücksichtigung vorgegeben:

- Die Bewegung der Hand zum Ball (nicht des Balls zur Hand)
- Die Entfernung zwischen Gegner und Ball (unerwarteter Ball)
- Die Position der Hand (das Berühren an sich ist noch kein Vergehen)
- Das Berühren des Balls mit einem Gegenstand in der Hand des Spielers (…) ist ein Vergehen.
- Das Treffen des Balls durch einen geworfenen Gegenstand (…) ist ein Vergehen.


Wie die Realität aussieht

Die obigen Punkte geben Schiedsrichtern zwar eine grobe Orientierung, was bei ihren Einschätzungen zu berücksichtigen ist, lassen jedoch bewusst viel Handlungs- und Interpretationsspielräume zu. Die aufgeführten Kriterien werden daher durch Anweisungen und Auslegungen, die bspw. von der FIFA, der UEFA und dem DFB bestimmt werden, ergänzt und konkretisiert.

Diese Auslegungen haben sich in den vergangenen Jahren derart entwickelt, dass heute weniger die „Absicht im Wortsinn“, sondern eher die „Absicht im Regelsinn“ ausschlaggebend für die Entscheidung eines Schiedsrichters ist. Und diese Absicht im Regelsinn liegt nicht mehr nur dann vor, wenn ein Handspiel wirklich beabsichtigt war, sondern auch dann, wenn ein Spieler gewissermaßen "grob fahrlässig" gehandelt hat (auch wenn dies so nicht im Regelwerk steht und nicht mit dem dort üblichen Terminus der Fahrlässigkeit gleichzusetzen ist). 

Folgerichtig spricht man heute in Schiedsrichterkreisen mehr von strafbaren als von absichtlichen Handspielen.

Damit kann man natürlich grundsätzlich ein Problem haben – schließlich gleicht das Einbeziehen der potenziellen Fahrlässigkeit eines Handspiels einer Aufweichung des Absichtsprinzips, die so in den Regeln eigentlich nicht vorgesehen ist. Gleichzeitig muss zur Kenntnis genommen werden, dass dies in der Form von sämtlichen relevanten Verbänden so vorangetrieben wird, durchaus als zeitgemäß gelten und sich auch das deutsche Schiedsrichterwesen davor wohl kaum verschließen kann.


So eindeutig ist leider nicht jedes Handspiel - zur Beurteilung von Absicht bedarf es Kriterien...


Kriterien zur Beurteilung der Strafbarkeit eines Handspiels

Die folgenden Ausführungen betreffen insbesondere Handspiele, die von Abwehrspielern innerhalb oder in der Nähe des Strafraums begangen werden (die Latte für die Strafbarkeit von Angreifer-Handspielen liegt in der Praxis etwas niedriger).

Um die Strafbarkeit eines Handspiels zu bewerten, sind folgende Kriterien relevant:

Kriterium
Indiz

Bewusste Handlung

Benutzt der Spieler seine Hand oder seinen Arm in bewusster Weise, um den Ball zu berühren?

Unnatürlichkeit der Hand- bzw. Armposition

Liegt eine unnatürliche Position der Hand oder des Arms, mit dem der Kontakt erfolgt, vor?

Ist die Hand- bzw. Armposition Teil eines situationstypischen Bewegungsablaufs?

Vergrößerung der Körpertrefferfläche

Will der Spieler seine Trefferfläche vergrößern, indem er seine Arme bzw. Hände benutzt bzw. ausstreckt?

Sind die Arme und Hände nahe am Körper oder signifikant von ihm abgespreizt?

Bewegung der Hand zum Ball

Bewegt sich die Hand bzw. der Arm zum Ball oder bewegt sich der Ball eher zur Hand bzw. zum Arm?
Erwartbarkeit des Balls

Prallt der Ball unerwartet von einem anderen Körperteil des Spielers an seine Hand bzw. seinen Arm?

Spannt der Spieler seinen Arm / seine Hand an? Zeigt er eine geschlossene, angespannte Faust (spricht für Absicht)? Oder schlackern Arm bzw. Hand nach dem Ballkontakt zurück? (spricht gegen Absicht)

Kann der Spieler den Ball kommen sehen?

Vermeidbarkeit
Versucht der Spieler, das Handspiel zu vermeiden?

Kann der Spieler das Handspiel vermeiden?

Wie groß ist die Distanz zwischen ihm und dem Ball?

Welche Distanz hat der Ball bereits zurückgelegt, bevor er die Hand bzw. den Arm berührt?


Es sollte darauf hingewiesen werden, dass die Bedeutung der Kriterien je nach Situation variiert und letztere bei der Entscheidung mal mehr und mal weniger ins Gewicht fallen.


Beispielhafte Spielsituationen 

Einige Handspiele des zurückliegenden Wochenendes waren überaus klar: Etwa Burkes Handspiel vor dem Leipziger 1:0 hat sich nach Betrachtung der Wiederholungen als eindeutig absichtlich – und das wohl auch im Wortsinn – herausgestellt. Ähnlich klar waren auch die Handspiele, die in Frankfurt zu einem korrekten Elfmeterpfiff und in München zu einem fehlenden Strafstoß für die Hausherren führten. Andere Situationen sind dagegen auch in der Nachbetrachtung weitaus umstrittener.


Situation 1: FC Schalke 04 – Borussia Dortmund (> VIDEO)

Die 92. Spielminute des 150. Revierderbies wurde auf allen medialen Kanälen bereits ausgiebig und kontrovers diskutiert. Dies ist bereits ein Hinweis darauf, dass die Situation alles andere als eindeutig war und Schiedsrichter Felix Zwayer, der das Handspiel von Marc Bartra im Strafraum als unabsichtlich bewertete, quasi entlastet ist.

Die folgende Grafik veranschaulicht noch einmal die aus meiner Sicht bestehenden Argumente für die jeweilige Entscheidungskategorie „Absicht“ und „Keine Absicht“.



Besonders wichtig erscheint hier das Argument der spieler- und situationstypischen Bewegungsabläufe, welche die Handposition in einem natürlichen Licht erscheinen lassen. Demgegenüber steht die Frage, ob die Fahrlässigkeit einer solch hohen Handposition in diesem konkreten Fall nicht stärker wiegt. Gegen Absicht spricht vor allem, dass Bartra sich wohl zu seiner eigenen Überraschung selbst anschoss – den Ball konnte er also kaum erwarten. Meines Erachtens überwiegen hier die Argumente, die gegen einen Pfiff sprechen. Und ein Revierderby beim Stand von 1:1 in der 92. Spielminute ist wohl kaum eine geeignete Gelegenheit, einen Strafstoß zu pfeifen, der nicht einmal 90% eindeutig ist.


Situation 2: FC Ingolstadt – FSV Mainz 05 (> VIDEO)

Nach einem Eckstoß in der 3. Spielminute forderten die Ingolstädter gleich zweimal Strafstoß – vor allem beim Handspiel von Gbamin. Bei dem Versuch, den Ball vor dem Ingolstädter Angreifer Roger wegzuspitzeln, machte er einen leichten Ausfallschritt nach vorn. 

Roger spielte den Ball jedoch zuerst und schoss ihn aus kurzer Distanz an Gbamins Hand (d.h.: Ball zur Hand und nicht umgekehrt), die – für eine derartige Klärungsaktion nicht unüblich – leicht angewinkelt vom Körper abstand. Dadurch hat er seine Körper-Trefferfläche allerdings nicht unbedeutsam vergrößert. Eine Chance, die übrigens nicht vollends angespannte Hand wegzuziehen, hatte er indes nicht.  Hier konfligieren folglich einige der relevanten Kriterien miteinander – vieles spricht für die Entscheidung von Patrick Ittrich, dessen Pfeife stumm blieb.


Situation 3: Rennes – Lyon (> VIDEO)

Eine Szene aus der französischen Ligue 1 illustriert die Entwicklung, dass heute zunehmend Kriterien der Fahrlässigkeit bzw. der Inkaufnahme eines Handspiels dazu ausreichen, dass es als strafbar einzustufen ist. Rennes‘ Verteidiger Ramy Bensebainis blockte den gefährlichen Torschuss mit dem vom Körper abstehenden Arm ab und machte sich dadurch größer. 

Wenngleich argumentiert werden kann, dass bei einem solchen Ausfallschritt die Hand automatisch mit nach oben geht, um die Balance zu halten, so überwiegt hier jedoch die fahrlässige Trefferflächenvergrößerung. Zudem konnte er den Ball eindeutig kommen sehen und hätte die Chance gehabt, den Kontakt mit der Hand zu vermeiden. 

Laut Anweisungen der UEFA sind Handspiele, die von Spielern bei dem Versuch begangen werden, Torschüsse oder Flanken abzuwehren, und die ihre Hände dabei unnatürlich weit vom Körper entfernt positioniert haben, nahezu grundsätzlich als strafbar zu werten.


Kontinuum statt Dichotomie: Es gibt einen Graubereich


Die Fülle der tabellarisch abgebildeten, binnen Bruchteilen einer Sekunde zu beurteilenden und gegeneinander abzuwägenen Kriterien und obendrein die Handspielsituation aus dem Revierderby verdeutlichen mehrere Aspekte:

1) Das Regelwerk kennt nur zwei dichotome Kategorien „Absicht“ und „Keine Absicht“. Handspiele sind aber in den seltensten Fällen eindeutig absichtlich (schwarz) bzw. eindeutig unabsichtlich (weiß). Sehr häufig bewegen sie sich in einem Graubereich.

2) Nach dem Abwägen der Kriterien bewegen sich Schiedsrichter in ihrer Einschätzung auf einem Kontinuum, vereinfacht gesagt: Zwischen 100% und 0% Absicht gibt es viele Zwischenstufen. In der Gesamtschau kann man selbst nach dutzenden Zeitlupen zu der Einschätzung kommen: 70:30 pro Absicht. Oder 50:50. Oder vielleicht sogar 80:20 contra Absicht. 

3) Nun müssen diese Einschätzungen auf Ebene eines Kontinuums in eine dichotome Entscheidungsauswahl überführt werden: Eben in „Absicht“, was womöglich einen Strafstoß zur Folge hat, oder in „Keine Absicht“, was Weiterspielen bedeutet. Aber ab wann entscheidet man sich denn nun für die eine oder andere Entscheidungsalternative?

4) Das einfachste wäre: Ab 51:49 pro Absicht gebe ich halt den Elfmeter, in den Konstellationen 50:50 bis 0:100 nicht. So einfach ist es jedoch nicht: Schiedsrichter ahnden üblicherweise nur eindeutige Handspiele. Doch wo liegt die Schmerzgrenze? Ab wann ist ein Handspiel „absichtlich genug“, um es zu ahnden? Bei 80% Kriterienerfüllung? Bei 90% pro Absicht? Oder wirklich nur bei 100%? Oder, was mancher Schiedsrichter bejahen würde: Müssen Handspiele gerade im Sechzehner „120% klar“ sein, um sie zu pfeifen? Im Zweifel neigen Schiedsrichter üblicherweise dazu, lieber nicht ins Spiel einzugreifen, als es auf Verdacht oder zumindest trotz Unsicherheit zu tun und dabei womöglich gar falsch zu liegen. 

5) Diese Überlegungen sind eher theoretisch, bilden aber den Prozess ab, den Schiedsrichter auf dem Platz unter der Einmaligkeit des Sehens und Schnelligkeit der Spielsituation intuitiv durchlaufen und in eine möglichst treffsichere Entscheidung überführen müssen. So fehlte auch Felix Zwayer, wie er später angab, "die komplette Überzeugung, dass es Absicht war".

Soll heißen: Das Leben ist nicht nur schwarz und weiß. Es besteht aus Grautönen. Und das gilt für Handspiele in ganz besonderer Weise. Bei aller Emotion wird dies auf und neben dem Platz leider allzu häufig übersehen. Vom Umstand, dass auch ein > Video-Schiedsrichter hier wohl nur sehr eingeschränkt helfen und Klarheit schaffen kann, mal ganz zu schweigen.


Quellen:

FIFA Spielregeln 2016/17 (> PDF)
UEFA Practical Information for Match Officials 2014 (> Onlineversion 2012)

Tobias Stieler im Interview: "Dem System eine faire Chance geben" - über An- und Herausforderungen als Video-Assistent

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Paris, 28. März, 80.000 Zuschauer im Stade de France in Erwartung des Klassikers Frankreich gegen Spanien. In einem kleinen Van vor dem Stadion sitzt FIFA-Referee Tobias Stieler, umgeben von moderner Technik und zahlreichen Bildschirmen, die ihm dabei helfen sollen, seine Kollegen auf dem Spielfeld (Felix Zwayer, Thorsten Schiffner, Marco Achmüller und Daniel Siebert) zu unterstützen. Als erster Deutscher überhaupt fungiert er in einem offiziellen Fußballspiel als Video-Assistent - und meistert den Härtetest. Gleich dreimal greift er entscheidend ein, korrigiert darunter zwei Entscheidungen der Assistenten im Zusammenhang mit Abseitsstellungen bei Toren (für alle relevanten Situation siehe dieses Video).

Wie Tobias Stieler das Spiel als Video-Assistent erlebt hat, welche Anforderungen mit dieser Tätigkeit gerade auf psychologischer und kommunikativer Ebene verbunden sind und was für eine erfolgreiche erste Bundesligaspielzeit mit "Videobeweis" entscheidend sein wird, beantwortet er im Interview mit Schirilogie.
Tobias Stieler (2.v.l.) zusammen mit Hellmut Krug (l.) und zwei Operators beim VAR-Test in Paris


Niclas Erdmann, Schirilogie:Lieber Tobias, der VAR-Testlauf (kurz für Video Assistant Referee) beim Länderspiel zwischen Frankreich und Spanien, bei dem Du als Video-Assistent fungiert hast, wurde insgesamt als sehr erfolgreich aufgenommen. Wie fällt Dein Fazit nach einigen Tagen Abstand aus?

Tobias Stieler: Sehr positiv. Ich bin ein totaler Befürworter des Video-Assistenten, alles andere ist nicht mehr zeitgemäß. Und eben jenes Länderspiel hat den Nutzen dieses neuen Systems eindrucksvoll bewiesen: Für die Assistenten, die nebenbei gesagt in der Bundesliga eine klasse Arbeit verrichten, waren die beiden Spielsituationen in Realgeschwindigkeit nicht mit absoluter Sicherheit zu lösen. Im Van im Stadion, dank modernster Technik und korrekt gezogener Abseitslinie, war es für mich relativ leicht und in kurzer Zeit möglich, beide Abseitsszenen richtig zu bewerten. Und auch der gegebene Strafstoß für Spanien konnte in einer nur sehr kurzen Zeitspanne bestätigt werden.

Schirilogie: Puls auf dem Spielfeld: 160 aufwärts. Und vor dem Bildschirm?

Stieler: Witzigerweise hat mich das auch interessiert, so dass ich das komplette Spiel hindurch meine Herzfrequenz aufgezeichnet habe. Normalerweise habe ich einen Ruhepuls von 53, zu Beginn des Spiels war dieser locker 40 Schläge höher als normal. Als sich in der 7. Minute ein Zweikampf im Strafraum ereignete, schnellte mein Puls mal eben so auf 125 hoch...

Schirilogie:Gab es vor der finalen Entscheidungsübermittlung nochmal einen Moment des Innehaltens, des Sich-Hinterfragens, vielleicht sogar des Zögerns?

Stieler: Bei der ersten Entscheidung mit Tragweite in der 48. Spielminute habe ich mir die Szene zur Sicherheit zweimal angesehen, obwohl mir schon beim ersten Durchlauf/Anhalten/Linie ziehen klar war, dass das Tor Abseits war. Nicht auszudenken, wenn bei diesem ersten Spiel von deutschen Schiedsrichtern etwas schief gegangen wäre. Auch vor dem Bildschirm gilt: Sicherheit vor Schnelligkeit. 

Schirilogie: Wie genau lief die Kommunikation innerhalb des Schiedsrichterteams ab?

Stieler: Wir üben ja bereits seit Beginn dieser Saison im Offline-Modus die Tätigkeit des Video-Assistenten. Ein wichtiger Bestandteil ist hierbei die Kommunikation: Möglichst kurz und präzise, Negationen wie z.B. „kein Abseits“ sind zu vermeiden. Beim aberkannten Tor für Frankreich lief es in etwa so ab:

Felix: „Check, ob Tor korrekt.“
Tobias: „Verstanden.“
Es folgte die Überprüfung und dann: 
Tobias: „Tor ungültig. Abseits. Indirekter Freistoß für Spanien.“
Felix: „Verstanden. Abseits. Indirekter Freistoß Spanien.“

Schirilogie: Zum Stichwort Kommunikation: Worauf wird es gerade beim "Verkaufen" von VAR-Entscheidungen ankommen? Nach dem 2:0 der Spanier wirkte es beinahe so, als habe sich Felix Zwayer bei Hugo Lloris dezent entschuldigt…

Stieler: Es gibt von der FIFA Vorgaben, wie so etwas zu kommunizieren ist: Sobald eine Überprüfung einer Szene durch den VAR in einer Spielruhe erfolgt, fasst sich der Schiedsrichter ans Ohr, um so deutlich zu machen, dass gerade eine Kommunikation stattfindet. Ändert der Schiedsrichter eine Entscheidung nach Rücksprache mit dem VAR, skizziert er mit den Händen die Umrisse eines TV. Daran werden sich die Zuschauer, aber auch wir Schiedsrichter gewöhnen müssen.

Zwayer skizziert die Umrisse eines TV: Doch kein Abseitstor


Schirilogie: Konkrete Spielsituationen ändern sich von Spiel zu Spiel. Nicht jedoch die Anforderungen an den Video-Assistenten – dazu zählt sicher auch die (gemeinsame) Spielvorbereitung auf technischer, taktischer und mentaler Ebene: Wie sieht diese als VAR aus und inwiefern unterscheidet sie sich von jener als Hauptschiedsrichter?

Stieler: Ich denke, dass es vor dem Spiel ein Briefing zwischen SR und VAR geben wird. Der SR sollte dann klar formulieren, wie er sich die Zusammenarbeit vorstellt. Das ist durchaus vergleichbar mit der Absprache mit den Assistenten vor dem Spiel. Hier gibt es ja auch von Schiedsrichter zu Schiedsrichter Unterschiede. Gleichwohl ist es natürlich nicht möglich, alle denkbaren Spielsituationen durchzugehen. Weniger ist hier manchmal mehr. Als VAR in Frankreich bin ich noch einmal das maßgebliche „Protokoll“ der FIFA durchgegangen, habe mich gedanklich auf Spielsituationen vorbereitet und – wie oben beschrieben – Kommunikationscodes entworfen, um bei Bedarf nicht überlegen zu müssen, wie ich etwas formuliere. 

Schirilogie:Welche Faktoren sind sowohl für den Schiedsrichter und seine Assistenten als auch für einen VAR auf psychologischer Ebene ausschlaggebend – und welche gewinnen mit dem VAR vielleicht an Bedeutung?

Stieler: Eine der größten Herausforderungen ist sicherlich, 2 x 45 Minuten voll konzentriert zu sein. Die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit ist extrem hoch und die Möglichkeit, dass etwas Wichtiges übersehen wird, besteht naturgemäß, insbesondere aber dann, wenn man nicht fokussiert ist. Weiterhin sollten wir Schiedsrichter uns im Klaren über die Bedeutung und Tragweite unserer Tätigkeit vor dem TV sein. Damit meine ich nicht, Angst zu haben, einen Kollegen zu korrigieren, sondern vielmehr der eigenen Wahrnehmung bzw. Analyse von Spielszenen zu vertrauen und den Mut haben, korrigierend einzugreifen. 

Schirilogie: Als Schiedsrichter ist man ja „mittendrin statt nur dabei“. Als Video-Assistent ist man zwar sehr wohl dabei, aber eben nicht räumlich. In der kommenden Bundesligaspielzeit werden die Video-Assistenten die Spiele aus einem Studio in Köln verfolgen. Hilft diese räumliche Distanz?

Stieler: Frankreich war schon surreal. Ausverkauftes Stadion, tolle Stimmung auf den Rängen, klasse Fußballer auf dem Platz und wir saßen unter der Tribüne in einem Van, völlig abgeschottet von der Außenwelt, nur Fernseher vor uns und die Kommunikation der Schiedsrichter hörend. Gleichwohl hilft es natürlich, alle möglichen Störquellen auszublenden und das zu tun, wofür wir da waren.

Schirilogie:Vor 80.000 Zuschauern vom Video-Assistenten korrigiert zu werden, ist sicher nicht schön. Leidet darunter die Autorität und Akzeptanz des Schiedsrichterteams auf dem Platz?

Stieler: Ich bin davon überzeugt, dass weder Autorität noch Akzeptanz darunter leiden werden. Alle Beteiligten wissen doch, dass niemand frei von Fehlern ist, weder Spieler, noch Trainer oder wir Schiedsrichter. Wenn tatsächliche Fehler bei uns Schiedsrichtern dann auf dem Platz auch noch schnell korrigiert werden, macht das den Fußball gerechter und uns den Job ein wenig einfacher. In Paris konnte ich insbesondere beim Strafstoß von Felix feststellen, dass zunächst zaghafte Proteste der Franzosen vorhanden waren, nach meiner Bestätigung der richtigen Entscheidung hat Felix das so an die Spieler perfekt kommuniziert und siehe da – keinerlei Proteste mehr.
 
Schirilogie: Üblicherweise heißt es nach strittigen Szenen: Bis zum Spielende gedanklich ausblenden, konzentriert bleiben! Mit einem Video-Assistenten erhalten Schiedsrichter nun direkt eine Rückmeldung. Geht Ausblenden da so einfach - oder zweifelt man dann nicht an sich selbst?

Stieler: Ich kann ja nur für mich antworten: Ich weiß, dass ich nicht perfekt bin und ich weiß, dass ich Fehler mache. Ziel ist und bleibt es natürlich, die spielentscheidenden Fehler weiterhin zu minimieren respektive zu vermeiden. Wenn dann doch ein solcher Fehler ab der neuen Saison korrigiert wird, werde ich mit Sicherheit nicht in Selbstzweifel verfallen, sondern dann geht Ausblenden ja noch besser, weil der Fehler ja nun nicht mehr ergebnisrelevant ist. Nach dem Spiel werde ich dann natürlich weiter etwaige Fehler analysieren und daraus lernen.

Schirilogie: Wenn Schiedsrichter mit einer Fehlentscheidung ein Spiel beeinflussen, wurde ihnen seitens der Spieler, Trainer, Medien und Öffentlichkeit bislang zumindest zugute gehalten, dass Irren und Fehler gerade mit Blick auf die Einmaligkeit des Sehens schnell ablaufender Spielsituationen menschlich sind. Dieses Argument dürfte bei einem potentiellen Fehler eines VARs medial ja nicht mehr gelten – bedeutet das nicht also auch eine Mehrbelastung?

Stieler: Wir müssen bis zum Start noch viel Aufklärungsarbeit leisten, wie die Arbeit eines VAR tatsächlich aussieht, insbesondere wann er eingreifen soll/darf/muss. In Frankreich z.B. gab es 28 Kameras, neben mir saßen zwei Operator, die mir bei den strittigen Szenen diverse Kamerabilder zur Verfügung gestellt haben. Man muss sich das so vorstellen: Das Spiel verfolge ich über einen Bildschirm, der mir nur die sog. Führungskameras zeigt (also nur die Bilder von den Kameras auf Höhe der Mittellinie). Sobald eine strittige Situation auftritt, schaue ich auf einen anderen Monitor, bei dem mir vier verschiedene Kameraperspektiven durch den Operator angeboten werden, die die strittige Situation aus unterschiedlichen Blickwinkeln zeigt. Ich muss nun schnell entscheiden, welche Perspektive ich für die Beste halte und dann in Zeitlupe, Frame-by-Frame oder/und in Normaltempo die Szene analysieren und möglichst korrekt entscheiden. Überall, wo Interpretationsspielraum herrscht, wird es auch nachher Diskussionen geben. Und auch ein Video-Assistent wird Fehler bei der Interpretation der Bilder machen, das wird nicht ausbleiben. Was für den einen Schiedsrichter klar ist, ist für den anderen möglicherweise genau das Gegenteil.
 
Schirilogie:
Wie sieht Deine optimistische und realistische Erwartung an das VAR-Programm für die kommende Bundesligaspielzeit aus? Welche Hoffnungen, welche Befürchtungen hast Du?

Stieler: Optimistisch betrachtet: Die Zahl der klaren Fehler der Schiedsrichter ist am Ende der Saison (auch aufgrund des VAR) gleich Null. Realistisch gesehen wird das natürlich so nicht möglich sein. Wichtig ist, dass sowohl Zuschauer als auch Vereine (Spieler, Trainer, Manager etc.) dem System eine faire Chance geben und nicht gleich – auch aus totaler Unwissenheit – wie in den letzten beiden Wochen nach den Tests in Deutschland bei Freundschaftsspielen geschehen, eine ablehnende Haltung einnehmen. Gleichwohl wird die Erkenntnis am Ende der Spielzeit sein: Dank Video-Assistent ist der Fußball gerechter.

Schirilogie: Vielen Dank für das Gespräch und für die weiteren Spiele alles Gute!


Hintergrund: Ab der kommenden Saison werden die Schiedsrichter in Bundesligaspielen durch Video-Assistenten in vier definierten Bereichen unterstützt: Bei Entscheidungen der Kategorie Tor oder Kein Tor, bei Strafstoßentscheidungen, Roten Karten und bei Spielerverwechselungen im Zusammenhang mit persönlichen Strafen. 

Lehreinheit Nr. 5: Strafstoßausführungen - was erlaubt und was nicht erlaubt ist

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Während die Englische Woche in der Bundesliga schiedsrichtertechnisch vergleichsweise ruhig und souverän über die Bühne gebracht wurde, sorgte ausgerechnet ein englischer Unparteiischer in der Partie Newcastle gegen Burton mit einem skurrilen Regelverstoß für mediale Aufmerksamkeit. Da ein Newcastle-Angreifer bei der Ausführung eines Strafstoßes für sein Team zu früh in den Strafraum hineingelaufen war, annullierte Referee Keith Stroud das daraus erzielte Tor und verhängte - zur Verwunderung aller - einen indirekten Freistoß, statt den Strafstoß, wie durch die Regel 14 vorgeschrieben, wiederholen zu lassen:



Ein ähnlicher und folgenreicher Regelverstoß war bereits der (inzwischen zurückgetretenen) deutschen Schiedsrichterin Marija Kurtes bei einem UEFA U-19-EM-Qualifikationsspiel im Jahr 2015 unterlaufen.

Diese diesmal rein praxisbasierte Lehreinheit klärt, zu welchen Vergehen es im Zusammenhang mit Strafstoßausführungen kommen kann, was erlaubt und was nicht und welche Entscheidungen in Einklang mit den Regelneuerungen des letzten Jahres in verschiedenen Szenarien zu treffen sind.


Hineinlaufen

Gemäß des Regelwerks müssen sich alle Spieler (mit Ausnahme des Schützen und des Torhüters) "mindestens 9,15 m vom Strafstoßpunkt entfernt, hinter dem Strafstoßpunkt, innerhalb des Spielfelds und außerhalb des Strafraums" befinden (S. 99).

In vielen Fällen missachten Angreifer und Verteidiger diese Regel und laufen zu früh in den Strafraum hinein. Was zwar wortwörtlich betrachtet keine Interpretationsspielräume zulässt, sollte und wird von Schiedsrichtern üblicherweise sinngerecht ausgelegt, so dass minimales Hineinlaufen häufig akzeptiert wird. Gleichwohl ist es schwierig festzulegen, ab wann ein Hineinlaufen signifikant wird und somit zu ahnden ist.

Während die meisten Unparteiischen sehr tolerant mit zu frühen Hineinlaufen umgehen (s. ein Videobeispiel aus dem Spiel Hertha BSC Berlin gegen 1899 Hoffenheim), ist manchem Referee schon ein halber bis ganzer Meter zu viel des Guten:



Vorsicht ist hierbei geboten: Wird schon der kleinste Übertritt mit einer Wiederholung bestraft, muss diese Linie bei dem jeweils folgenden Strafstoß konsequent weiterverfolgt werden, um nicht als inkonsistent, unausgewogen und unberechenbar wahrgenommen zu werden. Zudem will wohl niemand eine Wiederholungsorgie (wie hier obendrein zum Teil noch gegen das Regelwerk geschehen) sehen, wenngleich diese Argumentation zu einem gewissen Teil wohl auch einen sich selbst verstärkenden Kreislauf in Gang setzt.

Entscheidend für die sinngerechte sowie sichere Anwendung der Regeln sind hierbei die Mannschaftszugehörigkeit des Sünders (bzw. der Sünder) sowie die Wirkung des Strafstoßes, die stets abzuwarten ist. Beides ist für die Vorteilsbestimmung wichtig, die auch bei Strafstößen greift.
Läuft bspw. ein gegnerischer Spieler zu früh in den Strafraum, so werden der Schütze und das angreifende Team bei einem Torerfolg nicht bestraft - bei ausbleibendem Torerfolg wird der Strafstoß hingegen wiederholt. So wäre die Entscheidung von Keith Stroud, einen indirekten Freistoß zu geben, dann korrekt gewesen, wenn der Ball nicht im Tor gelandet wäre - nicht jedoch bei einem Torerfolg.

Einen Überblick gibt die Tabelle am Ende des Artikels!


Sich von der Linie nach vorn bewegende Torhüter

Der Torhüter muss laut Regel 14 mit Blick zum Schützen auf der Torlinie zwischen den Pfosten bleiben, bis der Ball getreten wurde. Denn je näher er dem Schützen bei der Strafstoßausführung kommt, desto kleiner wird der Winkel des Schützen und desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Torhüter den Ball halten kann.

Ahnungswürdig und durch den Schiedsrichterassistenten anzuzeigen sind solche Übertritte vor allem dann, wenn ein Torhüter bereits deutlich (d.h. mehr als nur ein paar Zentimeter) vor der Torlinie steht, bevor der Schütze den Ball überhaupt berührt und geschossen hat (> Videobeispiel). Steht er nur sehr minimal und kaum messbar vor der Torlinie, sollte von einer allzu pedantischen Regelauslegung (> Videobeispiel) abgesehen werden.

Seit den Regeländerungen zur Saison 2016/17 sind Torhüter, die sich von ihrer Torlinie nach vorn bewegen, mit einer Gelben Karte zu verwarnen (außer wenn der Strafstoß beim Nichtvorliegen eines gleichzeitigen Angreifervergehens verwandelt wird).


Antäuschen

Sog. Finten während des Anlaufens sind Teil des Spiels und somit zulässig. Als Beispiel hierfür dient einer der unrühmlichen Strafstoßausführungen der Italiener im EM-2016-Viertelfinale gegen Deutschland:



Nicht zulässig sind hingegen Finten nach dem Anlaufen, also unmittelbar vor oder während der Schussbewegung. Unabhängig davon, ob der Strafstoß verwandelt wird oder nicht, muss der Schütze in so einem Fall verwarnt und dem gegnerischen Team ein indirekter Freistoß zugesprochen werden:



Falscher Schütze

Vor dem Strafstoß muss der Schütze klar bestimmt sein. Führt ein Mitspieler des Schützen den Strafstoß aus, ist er zwingend zu verwarnen.



Unabhängig vom Effekt des Strafstoßes wird das Spiel durch einen indirekten Freistoß für das verteidigende Team fortgesetzt. Ausnahme: Wenn sich der Torhüter gleichzeitig regelwidrig von seiner Torlinie wegbewegt, muss der Strafstoß wiederholt werden - beide Spieler sind in diesem Fall zu verwarnen.


Mehrere gleichzeitige Vergehen

Bei mehreren gleichzeitigen Vergehen ist gemäß Regel 5 das schwerste Vergehen hinsichtlich Sanktion, Spielfortsetzung, physischer Härte und taktischer Auswirkungen zu ahnden. Laut IFAB gilt dies auch für Strafstoßausführungen.

Sind die Vergehen gleich schwer, muss der Strafstoß in der Regel wiederholt werden; die entsprechenden Disziplinarmaßnahmen sind dann gegen beide Spieler zu ergreifen.


Doppel- bzw. Zweitkontakte

Wenn der Schütze den Ball nach seiner Strafstoßausführung erneut berührt, bevor ein anderer Spieler ihn berührt hat - z.B. wenn er direkt vom Pfosten zurück ins Feld und vor die Füße des Schützen prallt oder sich der Schütze selbst anschießt - muss ein indirekter Freistoß für die verteidigende Mannschaft gegeben werden (> Videobeispiel).

Berührt eine Drittperson den Ball, während er sich vorwärts bewegt, muss der Strafstoß wiederholt werden.


Erlaubte Tricks

Im Fußball gibt es bekanntlich nichts, das es nicht gibt, wie die folgenden zwei Videobeispiele zeigen:



Eine Strafstoßausführung mit der Hacke ist grundsätzlich erlaubt, solange sich der Ball nach vorn bewegt. Ähnlich sieht es mit folgender Szene aus:


Der von Lionel Messi und Luis Suarez gezeigte Trick ist grundsätzlich erlaubt; es gibt keine Passage im Regelwerk, die ihn verbietet. In diesem konkreten Fall hätte der Strafstoß jedoch wiederholt werden müssen - denn Luis Suarez lief deutlich zu früh in den Strafraum und hatte dadurch gegenüber den Verteidigern einen deutlichen Positions- und Geschwindigkeitsvorteil.


Übersicht: Mögliche Szenarien
#
Angreifer/Schütze
Verteidiger
Torhüter
Tor
Kein Tor
1
läuft zu früh hinein
---
---
Wiederholung des Strafstoßes
Indirekter Freistoß

2
---
läuft zu früh hinein
---
Tor, Anstoß
Wiederholung des Strafstoßes

3
läuft zu früh hinein
läuft zu früh hinein
---
Wiederholung des Strafstoßes
Wiederholung des Strafstoßes

4
---
---
bewegt sich von der Torlinie nach vorn
Tor, Anstoß
Wiederholung des Strafstoßes, Verwarnung des Torhüters

5
läuft zu früh hinein
---
bewegt sich von der Torlinie nach vorn
Wiederholung des Strafstoßes und Verwarnung des Torhüters
Wiederholung des Strafstoßes und Verwarnung des Torhüters
6*
---
läuft zu früh hinein
bewegt sich von der Torlinie nach vorn
Tor, Anstoß
Wiederholung des Strafstoßes und Verwarnung des Torhüters
7*
läuft zu früh hinein
läuft zu früh hinein
bewegt sich von der Torlinie nach vorn
Wiederholung des Strafstoßes und Verwarnung des Torhüters
Wiederholung des Strafstoßes und Verwarnung des Torhüters
8
unzulässige Finte
---
---
Indirekter Freistoß und Verwarnung des Schützen
Indirekter Freistoß und Verwarnung des Schützen
9
unzulässige Finte
läuft zu früh hinein
---
Indirekter Freistoß und Verwarnung des Schützen
Indirekter Freistoß und Verwarnung des Schützen
10
**
unzulässige Finte
---
bewegt sich von der Torlinie nach vorn
Indirekter Freistoß und Verwarnung des Schützen
Wiederholung des Strafstoßes und Verwarnung beider Spieler
11
falscher Schütze
---
---
Indirekter Freistoß und Verwarnung des falschen Schützen
Indirekter Freistoß und Verwarnung des falschen Schützen
12
falscher Schütze
läuft zu früh hinein
---
Indirekter Freistoß und Verwarnung des falschen Schützen
Indirekter Freistoß und Verwarnung des falschen Schützen
13*
falscher Schütze
---
bewegt sich von der Torlinie nach vorn
Indirekter Freistoß und Verwarnung des falschen Schützen
Indirekter Freistoß und Verwarnung des falschen Schützen
14
schießt den Ball nach hinten
---
---
Indirekter Freistoß
Indirekter Freistoß
15
schießt den Ball mit der Hacke nach vorn
---
--- 
Tor, Anstoß
Weiterspielen

* wird im Regelwerk nicht eindeutig geklärt, erscheint nach Sinn und Geist der Regeln aber als naheliegend
** siehe IFAB Circular Nr. 7 (November 2016)

> Download: Tabellarische Übersicht als PDF
> Download: Regelfragen und -lösungen zum Thema Strafstoßausführungen

Nachspielzeit (28. Spieltag): Auf die Ballorientierung kommt es an - Warum Bürki zu Recht nur Gelb sah

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Im Bundesliga-Topspiel zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund fand die zu Saisonbeginn revidierte Notbremsenregelung erstmals medienwirksame Anwendung: Roman Bürki erhielt für seine Notbremse gegen Robert Lewandowski korrekterweise nur die Gelbe Karte. Neben einer regelbasierten Erläuterung gibt die heutige Spieltagskolumne zusätzlich einen Ausblick auf die kommende Saison, in der die Philosophie der abgemilderten Dreifachbestrafung auf taktische Foulspiele im Sechzehner ausgedehnt wird.


Nicht bei allen Strafraumentscheidungen lagen die Bundesligareferees am vergangenen Wochenende richtig, aber doch bei den allermeisten: Diskussionsbedarf bestand vor allem bei der Partie Schalke 04 gegen den VfL Wolfsburg, in der Benjamin Brand den Autostädtern zunächst zwei Strafstöße verweigerte – im 1. Fall wohl eher zu Unrecht (Foul von Nastasic an Gomez, der allerdings mehr als theatralisch fiel), im 2. Fall (Handspiel von Nastasic) hingegen eher zu Recht – , um den Wölfen dann einen Elfmeter zuzusprechen, der nach Betrachtung der Bilder zwar gegeben werden kann, aber keinesfalls gegeben werden muss. Keine zwei Meinungen gab es beim Strafstoß in Frankfurt – und auch in Ingolstadt war der Pfiff des Referees trotz der nur leichten Berührung angesichts des hohen Tempos vertretbar. Einen weiteren Graubereich lieferte das Gastspiel der Werkself bei den Rasenballern aus Leipzig, die sich glücklich schätzen konnten, dass Schiri Dr. Robert Kampka ihrem Verteidiger Stefan Ilsanker bei einem Handspiel in der 33. Minute keine eindeutige Absicht unterstellte.

Um die leidige Frage nach der Intention ging es auch im Bundesliga-Topspiel zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund – allerdings in einem völlig anderen Zusammenhang: Robert Lewandowski lief nach einem feinen Pass in die Tiefe frei auf den Dortmunder Schlussmann Roman Bürki zu. Statt direkt abzuschließen, versuchte der aktuelle Bundesliga-Toptorjäger den Schweizer Nationaltorhüter zu umkurven und den Ball anschließend ins leere Tor einzuschieben. Dabei traf der Dortmunder Keeper mit seinem langen Bein Lewandowskis Fuß und brachte ihn so in Höchstgeschwindigkeit zu Fall (Video). Klare Sache: Strafstoß – aber welche Karte?


Gelb bei ballorientierten Notbremsen

Schiedsrichter Marco Fritz, der im gesamten Spiel mit einer Ausnahme (Vidal hätte in der 87. Minute für sein rücksichtsloses Stollenvergehen zwingend die Gelb-Rote Karte sehen müssen) das Regelwerk stets mit viel Situationsgespür aus- und in seiner An- und Körpersprache eine formidable Leistung hingelegt hat, entschied sich trotz der vereitelten offensichtlichen Torchance im Strafraum nur für den gelben Karton.

Damit sorgte er für Proteste seitens der Bayern – und hörbare Regelunkenntnis in der Kommentatorenbox. Sky-Kommentator Wolff Fuss bemerkte sofort: „Beim Torhüter hat ein Unparteiischer Handlungsspielraum, wenn man das Gefühl hat, der Torhüter will hier zum Ball.“

Korrekt ist: Entscheidend für die Disziplinarstrafe nach einer regelwidrigen Verhinderung einer offensichtlichen Torchance im Strafraum ist in der Tat die Frage, ob der fehlbare Spieler die Möglichkeit hatte und aufrichtig versucht hat, den Ball zu spielen. Dies war auch in der folgenden Situation der Fall, als Gianluigi Buffon den Ball spielen wollte, ihn aber knapp verfehlte:


Handelt es sich bei einem Vergehen um einen authentischen Versuch, den Ball zu spielen– im Englischen "genuine attempt to play the ball"– ist der Spieler seit Saisonbeginn lediglich mit einer Gelben Karte zu bestrafen, sofern dadurch eine offensichtliche Torchance im Strafraum verhindert wird. Dies gilt allerdings nicht nur für den Torhüter wie in Bürkis (oder Buffons) Fall, sondern für jeden Spieler– mehr als nur ein Detail, das idealerweise von einem TV-Schiedsrichterexperten unmittelbar klargestellt werden sollte, bevor sich Missverständnisse in den Köpfen der Öffentlichkeit festsetzen.   

Nach DFB-Terminologie war Bürkis Foulspiel eine ballorientierte Aktion: Seine Intention bestand darin, den Ball mit seinem ausgestreckten Fuß vor Lewandowski zu erreichen, kam aber den berühmten Bruchteil einer Sekunde zu spät. In anderen Worten: Seine Aktion war nicht rein gegnerorientiert, sie galt stattdessen ausschließlich dem Ball. Da Lewandowski den Ball außerdem nicht allzu weit an Bürki vorbei gelegt hat, war es auch grundsätzlich nicht ausgeschlossen, dass Bürki ihn bei besserem Timing mit seiner Fußspitze hätte erreichen können. Marco Fritz hielt ihm dies zugute – und ließ ihn „leben“. Eine Entscheidung, die sowohl von Spielverständnis, als auch von korrekter Regelanwendung zeugt.

Anders war es beim Zweitligaspiel zwischen Erzgebirge Aueund 1860 München (Video): Hier griff Löwen-Verteidiger Sebastian Boenisch kurz vor dem Halbzeitpfiff zur rettenden „Notbremse“, nachdem er einen missratenen Rückpass nicht mehr vor seinem Gegenspieler erreichen konnte. In der Konsequenz brachte er Aues Angreifer Dimitrij Nazarov im Sechzehner zu Fall und vereitelte somit eine offensichtliche Torchance. Nach einem kurzen Griff oben touchierte Boenisch seinen Gegenspieler unten an den Füßen – der Ball spielte bei dieser Aktion keine Rolle, es handelte sich hierbei um keinen authentischen Versuch, den Ball zu spielen. Folglich schickte Schiedsrichter Sascha Stegemann Boenisch mit Rot vom Platz.

Für Notbremsen im Strafraum gilt daher:

Notbremse OHNE Ballorientierung (Handspiel, Halten, Stoßen ...): Strafstoß & Rot
Notbremse MIT Ballorientierung (authentischer Versuch, den Ball zu spielen): Strafstoß & Gelb

Passende Videobeispiele finden sich hier.


Ab kommender Saison: Vereinfachtes Wording des Regeltexts

Hintergrund für die Neureglementierung von Notbremsen im Strafraum war die weit verbreitete Meinung, dass eine dreifache Bestrafung einer Notbremse (Platzverweis, Tor durch den Strafstoß, Sperre) unfair sei und zu weit gehe. Schließlich werde durch den gegebenen Strafstoß die offensichtliche Torchance wiederhergestellt.

Das International Football Association Board (IFAB) zeigt sich indes zufrieden: Auf ihrem jährlichen Zusammentreffen attestierten die Fußball-Regelhüter der Abmilderung der Notbremsenregelung ein erstes positives Zwischenzeugnis und betonten überdies, „sehr erfreut über die Reaktion des Fußballs“ zu sein. Zur nächsten Saison wurde ein vereinfachtes Wording des entsprechenden Regeltexts beschlossen, der praktisch jedoch keinerlei Auswirkungen hat und Schirilogie in englischer Form vorliegt:

"Where a player commits an offence against an opponent which denies an opponent an obvious goal-scoring opportunity and the referee awards a penalty kick, the offender is cautioned if the offence was an attempt to play the ball; in all other circumstances (e.g. holding, pulling, pushing, no possibility to play the ball etc.) the offending player must be sent off."

Ungefähr übersetzt bedeutet dies:
„Wenn ein Spieler ein Tor oder eine offensichtliche Torchance der gegnerischen Mannschaft durch ein absichtliches Handspiel vereitelt, wird er unabhängig vom Ort des Vergehens des Feldes verwiesen. Wenn ein Spieler mit einem Vergehen gegen einen Gegner eine offensichtliche Torchance vereitelt und der Schiedsrichter einen Strafstoß gibt, wird der Spieler verwarnt, wenn das Vergehen ein Versuch war, den Ball zu spielen; in allen anderen Fällen (z.B. Halten, Ziehen, Stoßen, keine Möglichkeit, den Ball zu spielen etc.) wird der fehlbare Spieler des Feldes verwiesen.“

Ausdehnung der Notbremsen-Philosophie auf „taktische Fouls“

Was die UEFA schon seit Saisonbeginn inoffiziell praktiziert, hat das IFAB nun auch für die offiziellen Spielregeln beschlossen: Wird im Strafraum ein aussichtsreicher Angriff durch ein Vergehen verhindert oder unterbunden – dies entspricht dem, was landläufig als „taktisches Foul“ bezeichnet wird, wenngleich dieser Begriff im Regelwerk ebenso wenig auftaucht wie jener der „Notbremse“ – ist der fehlbare Spieler künftig nicht mehr mit einer Gelben Karte zu bestrafen.

Ein passendes und von der UEFA dafür intern benutztes Videobeispiel war die folgende Spielsituation aus dem WM-Qualifikationsspiel zwischen Italien und Spanien, bei der der fehlbare Spieler erkennbar versucht hat, den Ball zu spielen:



Weiterhin verwarnungswürdig sind Vergehen, bei denen eine ballorientierte Aktion per se ausgeschlossen werden kann: Absichtliche Handspiele, Halten, Ziehen (s. Frankfurt – Bremen am vergangenen Freitag), Stoßen und grundsätzlich verwarnungswürdige Vergehen (wie etwa rücksichtslose Foulspiele) werden analog zur bereits implementierten Notbremsenregelung weiterhin Gelb nach sich ziehen.

Dies ergibt intuitiv Sinn. Schließlich wird die Verhinderung einer offensichtlichen Torchance im Strafraum aktuell mit der Verhinderung eines aussichtsreichen Angriffs im Strafraum disziplinartechnisch gleichgesetzt. Weiterhin wird der aussichtsreiche Angriff durch den in der Konsequenz gegebenen Strafstoß mindestens kompensiert, faktisch sogar verbessert.

Für das Unterbinden eines aussichtsreichen Angriffs („taktisches Foul“) innerhalb des Strafraums gilt daher künftig:

Taktisches Foul OHNE Ballorientierung (Handspiel, Halten, Stoßen ...): Strafstoß & Gelb
Taktisches Foul MIT Ballorientierung (authentischer Versuch, den Ball zu spielen): Nur Strafstoß

Weitere Videobeispiele können hier angesehen werden (in den drei dargestellten Spielsituationen ist künftig jeweils keine Gelbe Karte erforderlich!).

Der folgende Entscheidungsbaum fasst die vorherigen Ausführungen, die zu treffenden Entscheidungen und den Entscheidungsablauf bei Notbremsen bzw. taktischen Foulspielen je nach Ort und Art des Vergehens anschaulich zusammen (zum Vergrößern anklicken!):


Achtung: Die Regelung zur Unterbindung aussichtsreicher Angriffe greift erst ab der Spielzeit 2017/18. Sofern vom jeweiligen Verband nicht anders vorgesehen, ist bis dahin weiterhin eine Gelbe Karte für jede Form des Unterbindens aussichtsreicher Angriffe zu verhängen.

Nachspielzeit (29. Spieltag): Von Déjà-vus, Spraylinien und Respekt

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Für den Schiedsrichter war das 5:3-Spektakel in Sinsheim gleich in doppelter Hinsicht ein Déjà-vu. Während David Alaba in Leverkusen beim Freistoß selbst zur Sprayflasche greifen darf, wird Pierre-Michel Lasogga in den Schlusssekunden des Nordderbies die vom gegnerischen Tor wohl am weitesten entfernte Spraylinie der Bundesligahistorie zu Teil. Und zu guter Letzt bieten einige der in der vergangenen Spielwoche ausgesprochenen Platzverweise Anlass zur kritischen Reflexion in Sachen "Respekt".

Verwarnungen und Platzverweise sollten idealerweise auf Augenhöhe ausgesprochen werden


Nicht nur in puncto Torreigen stand die Partie zwischen der TSG Hoffenheim und Borussia Mönchengladbach im Mittelpunkt – denn auch aus Schiedsrichtersicht bot sie einigen Gesprächsstoff. Für den vom DFB mit der Spielleitung betrauten Unparteiischen Christian Dingert war es das erste Wiedersehen mit den Kraichgauern seit deren im wahrsten Wortsinn erkämpften Nullnummer bei der Eintracht aus Frankfurt. Nachdem Dingert damals das Spiel komplett aus den Händen glitt und Frankfurt-Verteidiger David Abraham einem zwingenden Platzverweis für seinen Brutalo-Ellbogen entging, war seitens der DFB-Schiedsrichterkommission sicher Einiges an Aufbauarbeit zu leisten: Nach einer mehrwöchigen Pause legte Christian Dingert so ein durchaus ansehnliches Comeback hin und überzeugte mit überwiegend guten und unaufgeregten Spielleitungen.

Mediale Aufmerksamkeit erlangte er dabei besonders einmal: Als er Lars Stindls mit der Hand erzielten Treffer beim FC Ingolstadt als regulär anerkannte. Damals entbrannte im Nachgang der Partie weniger eine Debatte darüber, ob Stindl den Ball mit einem absichtlichen Handspiel ins Tor befördert hatte, sondern vielmehr eine Grundsatzdiskussion darüber, ob es allgemein im Sinne der Fußballregeln und -gemeinschaft ist, dass ein Tor auf legale Weise mit der Hand erzielt werden kann. Der Vorsitzende der DFB-Eliteschiedsrichter-Kommission, Lutz Michael Fröhlich, legte sich damals fest und beurteilte die leichte Bewegung von Stindls Hand zum Ball als ausschlaggebend dafür, das Handspiel als absichtlich und somit als strafbar einzustufen. Auch international herrscht in den höheren Schiedsrichterkreisen Konsens: Bei Toren, die mit der Hand erzielt werden, liegt die Latte für eine Beurteilung als absichtliches Handspiel deutlich tiefer als in anderen Szenarien.

'Always expect the unexpected!'

Nun war es in Hoffenheim wieder Lars Stindl, der seine Fohlen in Folge eines Handspiels jubeln ließ. Was war passiert? In der 35. Spielminute erhielt Hoffenheim-Keeper Oliver Baumann einen Rückpass, der ihn mächtig in Bedrängnis brachte: Denn gleich zwei Gladbacher liefen ihn an und setzten ihn so unter Druck. Baumann ließ sich einen Sekundenbruchteil zu viel Zeit – sein Klärungsschuss wurde von Jonas Hofmanns leicht geöffneter und abgespeizter Hand abgefälscht. An diesem Punkt war der Ausgleichstreffer nur noch Formsache, Stindl musste nach einem Querpass nur noch ins leere Tor einschieben. Christian Dingert war im Moment des Rückpasses gerade dabei, seine Kleidung zurechtzuziehen und sah den Lauf der Dinge offenbar nicht vorher – hier greift, wie so häufig, die in Schiedsrichterkreisen bekannte Sentenz „Always expect the unexpected!“. Als das Handspiel erfolgte, war der Referee rund 30 Meter entfernt – hatte aber dennoch freien Blick und sich dementsprechend schnell auf eine Entscheidung festgelegt. Wild gestikulierend war er sich sicher: Das war keine Absicht. Nun kann man dieses Handspiel regeltechnisch auseinandernehmen, von allen Seiten beleuchten und in seine Einzelteile zerlegen, um möglicherweise zu dem Schluss zu kommen, dass wir im Bereich 70:30 pro strafbares Handspiel liegen. Das wäre sehr detailorientiert. Mehr im Sinne des Fußballs wäre es mitunter, sich zu fragen, was gegeben sein müsste, dass ein Tor regulär mit der Hand erzielt werden kann. Gemäß des inzwischen auch regeltechnisch verankerten "Geists der Regeln" sollte das wohl nur dann der Fall sein, wenn wirklich alles gegen Absicht spricht (und gemessen an dem Dogma, das etwa in Nyon bei der UEFA verfolgt wird, wäre das noch eine sehr konservative Haltung). War das hier der Fall? Wohl eher nicht. Das Tor hätte nicht zählen sollen.

Ähnlich verhielt es sich beim 1:0-Führungstreffer. Dass Szalai im Moment des ersten Kopfballs auf Yann Sommer, den Letzterer noch abwehren konnte, lediglich mit der Fußspitze im Abseits stand, war allerdings nur mit Vergrößerungslupe zu erkennen. In der 63. Spielminute lag der Unparteiische leider ein weiteres Mal daneben: Als Mahmoud Dahoud mit beiden gestreckten Sohlen voraus Demirbay auf die Füße stieg, waren beide Kriterien für ein grobes Foulspiel – also sowohl übermäßige Härte als auch eine klare Gefährdung der Gesundheit des Gegenspielers – eindeutig erfüllt: Statt Gelb hätte es hier Rot geben müssen.

Weniger zurückhaltend mit der Farbe Rot war derweil Referee Guido Winkmann beim Spiel FC Augsburg - 1. FC Köln, der seine Führungsposition in Sachen Platzverweisanzahl damit weiter ausgebaut hat. Bemerkenswert war hier insbesondere der erste Feldverweis: Augsburgs Koo wurde nach einem gefährlichen Tackling in Kopf- bzw. Brusthöhe zu Recht mit Gelb-Rot vom Platz geschickt – bzw. vielmehr vom Platz getragen: Denn bei seinem Tackle hatte sich der Koreaner selbst schwer verletzt, so dass er mit der Trage abtransportiert werden musste. Wie für solche Fälle vorgesehen, zeigte Schiedsrichter Winkmann die Gelb-Rote Karte nicht dem schwerverletzten Sünder, sondern hielt die Karten in Anwesenheit des Augsburger Kapitäns mit Verweis auf die Trage zwecks Entscheidungskommunikation in die Höhe. Dies gebieten neben rein technischen Gründen auch Menschenverstand, ein Mindestmaß an Taktgefühl und der Respekt für den Spieler. Denn während ein Spieler am Boden oder gar auf einer Trage liegt, kann jede Form der Sanktionskommunikation im wahrsten Sinne des Wortes nur „von oben herab“ wirken.

Von der weit verbreiteten Philosophie, am Boden liegenden Spielern keine Karte zu zeigen, nahm am vergangenen Spieltag UEFA Second Group Referee Daniel Siebert hingegen Abstand: Der Berliner entschied nach Tin Jedvajs Ziehen und Zerren an Thomas Müller in der 58. Minute korrekterweise auf Gelb – und in der Konsequenz Gelb-Rot –, da der Leverkusener so obendrein einen vielversprechenden Angriff unterbunden hatte. Anstatt zu warten, bis Jedvaj wieder auf den Beinen und aufgestanden war, zeigte ihm Siebert ohne Latenzzeit erst Gelb und, als Jedvaj dann im Begriff war aufzustehen, Rot. Viel Respekt hat dies in dieser Situation nicht versprüht – dies hat Siebert aber womöglich bewusster- und nachvollziehbarerweise in Kauf genommen: Hätte er mit dem Aussprechen der beiden Karten noch etwas gewartet, hätte er beiden Seiten die Gelegenheit gegeben, für bzw. wider Gelb-Rot zu protestieren. In diesem Fall überwog somit der Nutzen einer möglichst zügigen Entscheidungskommunikation auf Kosten von respektvollem Spielermanagement – wenngleich natürlich ungewiss bleibt, ob es wirklich zu Protesten gekommen wäre, wenn Siebert den Mittelweg gewählt hätte: Karten herausholen, aber erst zeigen, sobald Jedvaj wieder auf den Beinen ist. Eine kuriose und gleichsam menschliche Reaktion zeigte Siebert dann auch gleich in Anschluss an Jedvajs Abgang: Als David Alaba seinen Wunsch äußerte, Siebert möge die gesprayte Freistoßlinie nicht allzu dick auftragen, drückte der Unparteiische ihm die Sprayflasche spontan in die Hand.

Für eine besondere Form der Spraytechnik sorgte einen Tag später auch Dr. Felix Brych im Nordderby: Als Pierre-Michel Lasogga in der 95. Spielminute – und somit eine halbe Minute vor der Derbyniederlage seiner Hanseaten – einfach nicht die vorgeschriebenen 9 Meter 15 bei einem Werderaner Freistoß tief in deren eigener Hälfte einhalten wollte und scheinbar auch auf Brychs Pfiffe und Zurufe nicht reagierte, lief Deutschlands Nr. 1 kurzerhand zu Lasogga und sprayte ihm seine ganz persönliche Linie - 70 Meter vom gegnerischen Tor entfernt. Was ohne Zweifel zu einigen Lachern im Weserstadion und vor dem TV-Bildschirmen geführt hat, kann man aus Schiedsrichtersicht durchaus kritisch beäugen. Nicht nur, dass das Spray eigentlich nur in Strafraumnähe (also maximal etwa 25 Meter vor dem Tor) als Ergänzung – und nicht als Ersatz – der Persönlichkeit des Schiedsrichters zum Einsatz kommen sollte und sich Brych dadurch selbst unter Zugzwang gesetzt hat – denn Lasogga ignorierte selbst die Spraylinie, ohne dass der Unparteiische darauf reagierte. Vielmehr wirkte Brychs Aktion einigermaßen impulsiv und glich letztlich einer Persiflage von Pierre-Michel Lasogga, die in einer entsprechenden Publikumsreaktion ihr wohl nicht gänzlich unbeabsichtigtes Echo fand. Eigentlich sollten sich Schiedsrichter darum bemühen, auch grenzdebil agierenden Spielern den nötigen Respekt entgegenzubringen – und der kam in dieser Aktion nicht wirklich herüber. Erheiternd war die Szene natürlich dennoch, genauso wie Brychs allgemein sehr souveräne Spielleitung, die lediglich dadurch getrübt wurde, dass sein Assistent Stefan Lupp Lewis Holtby beim sehr wahrscheinlichen 2:2 irrtümlicherweise in einer Abseitsstellung wähnte.

Ein Adlerauge bewies dagegen der italienische Assistent Filippo Meli in der Nachspielzeit des Champions League Viertelfinal-Hinspiels der Bayern gegen Real Madrid. Was in der Zeitlupe recht deutlich aussah, war in Realgeschwindigkeit wohl sehr schwierig zu sehen: Sergio Ramos stand bei der Flanke seines Mitspielers im Abseits und köpfte ins Tor ein, nachdem er mehrere Meter zurück in Richtung Mittelfeld gelaufen war. Dadurch entstanden gegenläufige Bewegungen, die für den Assistenten stets die Gefahr visueller Verzerrungen bergen. Meli ließ sich nicht täuschen – klasse Entscheidung, ohne die es Bayern gestern womöglich nicht einmal in die Verlängerung geschafft hätte. Melis Chef Nicola Rizzoli fiel abgesehen von seiner insgesamt guten und nur durch die Handspielfehlentscheidung getrübten Leistung dadurch auf, beim berechtigten Platzverweis gegen Javi Martínez seine Pfeife im Mund gelassen zu haben. Auch dies gilt in Schiedsrichterkreisen eigentlich als wenig respektvoll – nicht umsonst heißt es ja „eine Verwarnung / einen Platzverweis aussprechen“. Wenn es Rizzoli in der Situation jedoch wichtiger war, durch die sich selbst auferlegte verbale Kommunikationssperre zu signalisieren „Seht her: Ich lasse bei dieser Entscheidung nicht mit mir reden!“, ist dies akzeptabel.

Tipp: Idealerweise sollte bei Verwarnungen und Platzverweisen darauf geachtet werden, die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, um die Entscheidungen verbal unterstreichen und verkaufen zu können.  Außerdem sollte gewartet werden, bis der fehlbare Spieler aufgestanden ist. Beides signalisiert Respekt.

Problematisch wird es dann, wenn die Pfeife im Mund zur Regel wird. So wie bei Patrick Ittrich, dessen Lippen sich beim Heimsieg von Darmstadt 98 über Schalke 04 bei praktisch allen Karten einfach nicht von der Pfeife trennen wollten. Gerade in der 78. Minute, als er Thilo Kehrer vom Platz stellte, zeigte er sich wenig diskussionsfreudig – und durch die Pfeife im Mund auch Sekunden danach wenig ansprechbar. In der Situation auf die Verhinderung einer offensichtlichen Torchance zu entscheiden, war indes alles andere als eindeutig: Letzter Mann zu sein reicht schließlich nicht aus. Schalkes Schlussmann Ralf Fährmann wäre womöglich noch vor dem gefoulten Darmstädter an den Ball gekommen – Letzterer hatte den Ball zudem (noch) nicht unter Kontrolle. Üblicherweise gilt: Besteht Anlass zur Diskussion, kann es keine offensichtliche Torchance gewesen sein. Überraschend ist, dass Ittrich das Geschenk nicht angenommen hat, auf Nummer Sicher zu gehen und Kehrer nur Gelb für die Verhinderung eines aussichtsreichen Angriffs zu geben – denn der war ohnehin schon verwarnt und hätte somit in jedem Fall duschen gehen müssen. Auf der anderen Seite: davon unbeeindruckt eine Entscheidung zu treffen, von der man überzeugt ist, ist auch eine Stärke - zumal Glattrot sicherlich nicht eindeutig falsch war. 

Lehreinheit Nr. 6: Einheitlichkeit in der Spielleitung: Über Berechenbarkeit und taktische Ausgewogenheit

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Nach einer halben Stunde des gestrigen Pokal-Halbfinals zwischen Bayern München und Borussia Dortmund konnte man als Anhänger des dritten Teams auf dem Platz einige Sorgenfalten bekommen: Trotz guten Starts mit einem zu Recht verweigerten Handelfmeter für die Bayern geriet Referee Manuel Gräfes Spielleitung zusehends ins Wanken. Dass seine Akzeptanz und Autorität zwischenzeitlich spürbar litten, lag dabei hauptsächlich an einem Problem: Uneinheitlichkeit. Eine praxisbeispielgestützte Lehreinheit zu einem der wichtigsten Merkmale schiedsrichterlicher Exzellenz.


Als Dortmunds Ousmane Dembélé nach 25 Minuten die Gelbe Karte sah, verlor die Dortmunder Bank endgültig die Fassung: Dembélé setzte kurz vor dem eigenen Strafraum zur Grätsche an und spielte im Zweikampf mit Franck Ribéry zunächst klar den Ball. Anschließend traf er seinen Landsmann jedoch mit seinem Nachziehbein. Angesichts der moderaten bis hohen Intensität des Tacklings gab es zu Recht einen Freistoß – ob eine Verwarnung hier zwingend war, kann man schon eher diskutieren. Und zwar vor allem deshalb, weil es auf der anderen Seite nur zwei Minuten zuvor für ein ähnliches Vergehen keine Karte gab: Xabi Alonso grätschte im Mittelfeld mit relativ hoher Intensität und gestrecktem Bein in Richtung Ball. Neben Letzterem berührte er jedoch auch seinen Gegenspieler Marco Reus und brachte ihn so zu Fall – auf viel zu riskante und dem Regelwerk nach durchaus rücksichtslose Art und Weise. Gräfe ließ die Karte hier allerdings stecken.


Entweder beide oder keiner

Dies war nicht nur regeltechnisch grenzwertig, sondern auch unter taktischen Gesichtspunkten unclever. Da der Unparteiische aus Berlin wenige Minuten zuvor Julian Weigl für ein taktisches Vergehen verwarnt hatte, bot sich ihm die von Schiedsrichtern zumeist dankbar angenommene Gelegenheit, die Kartenbilanz zügig auszugleichen – dies hätte rückblickend für wahrgenommene Balance und Ausgewogenheit zwischen den beiden Teams gesorgt: Xabi Alonso zu verwarnen, war technisch nicht nur möglich oder ratsam, sondern in Anlehnung an den Schiedsrichterjargon nahezu taktisch zwingend. Da der Referee dies nicht tat, war es wenig überraschend, dass es zu ersten heftigeren Dortmunder Protesten kam.

Mit der Verwarnung gegen Dembélé goss der Unparteiische aus Berlin noch einmal ungewollt zusätzliches Öl ins Feuer der Dortmunder Entrüstung: Angesichts der Intensität war Dembélés Tackle sogar noch eine Spur harmloser als jenes von Xabi Alonso. Kaum überraschend, dass bei den Borussen nun das Gefühl aufkam, dass hier mit zweierlei Maß gemessen werde – was objektiv betrachtet auch der Fall war. Ohne Zweifel muss in der Rückschau konstatiert werden: Der Schiedsrichter hätte entweder beide oder keinen verwarnen sollen. Alles andere war in diesem Fall unausgewogen und wenig berechenbar.  


Uneinheitlichkeit führte zu Akzeptanzmangel

In den Folgeminuten entwickelte sich das Spiel mehr und mehr zum Debattierclub: Vielleicht unter dem Eindruck der Dortmunder Proteste pfiff Gräfe in der 29. Minute einen nicht unumstrittenen Freistoß für die Gäste. Dabei wurde Gräfe von nahezu sechs protestierenden Bayern umringt – nun fühlte sich offenbar auch das zuerst 'bevorteilte' Team unfair behandelt. Nach der Mauerstellung missachteten gleich mehrere Bayern die durch das Freistoßspray markierte Distanz von 9,15 Metern. Während Gräfe nachjustierte, beschloss Arjen Robben kurzerhand, die vom Referee festgelegte Mauerdistanz selbst abzuschreiten: Damit führte er die Autorität des Schiedsrichters vor aller Augen vor, die Akzeptanz des Referees befand sich zu diesem Zeitpunkt auf einem Tiefstand.

Dies spiegelte sich auch darin wider, dass Gräfe nahezu bei jedem noch so kleinen Protest von den Rängen oder Bänken gestikulierte, um bspw. die Unabsichtlichkeit von Handspielen zu simulieren (was oft eine positive Wirkung entfaltete - so z.B. nach dem unabsichtlichen Handspiel von Weigl -, jedoch nicht immer sein Ziel erreichte und an mancher Stelle "too much" wirkte - und darüberhinaus im Regelwerk so eigentlich nicht erwünscht ist). 

Glücklicherweise gelang es dem Referee ab der 30. Minute, seine Autorität durch überwiegend treffsichere Entscheidungen wieder einzufangen – dabei half es sicher auch, Robben für seine unsportliche Aktion in der 29. Minute mit einer entsprechenden Signalwirkung zu verwarnen. Ob der Autoritätsrückgewinn aber vielleicht auch nur Zufall oder das Glück des ansonsten Tüchtigen war, lässt sich in der Rückschau natürlich nur schwer beurteilen.

Losgelöst von diesem konkreten Spiel lohnt es sich, die Thematik der Einheitlichkeit weiter zu vertiefen.


Zur Theorie von Einheitlichkeit in der Spielleitung

Einheitlichkeit (engl.: "consistency") gehört zu den Kernmerkmalen einer guten Schiedsrichterleistung. Spieler, Trainer, Zuschauer und Medien erheben in Zeiten des schnelllebigen Fußballs inzwischen kaum mehr den Anspruch, dass Schiedsrichter in ihren Entscheidungen immer richtig zu liegen haben – wohl wissend nämlich, dass dies nicht möglich ist. Was die genannten Akteure sehr wohl erwarten (dürfen), ist eine einheitliche Spielleitung in der Entscheidungsfindung und im Umgang mit den Spielern.

Einheitlichkeit meint hier, dass unter gleichen oder vergleichbaren Umständen dieselben oder zumindest ausgewogene Entscheidungen getroffen und die Spielregeln beiden Teams gegenüber in gleicher Weise ausgelegt werden (vgl. Weinberg & Richardson, 1990).


Zwei Arten von Einheitlichkeit

Die bereits skizzierte Form der Einheitlichkeit innerhalb eines Spiels (intra-consistency) kann von einer Einheitlichkeit zwischen verschiedenen Spielen bzw. Spielleitungen (inter-consistency) abgegrenzt werden. Letztere ist vor allem für Schiedsrichterkommissionen relevant, die dafür Sorge tragen müssen, dass unterschiedliche Spiele von unterschiedlichen Schiedsrichtern in annähernd ähnlicher Weise mit annähernd ähnlichen Entscheidungen in ähnlichen Situationen geleitet werden (diese Satzkonstruktion ist Sinnbild für die Komplexität dieser Aufgabe). Diese Art der Einheitlichkeit soll hier jedoch nicht weiter vertieft werden.

Stattdessen soll die erstgenannte Form der Einheitlichkeit im Zentrum stehen – denn sie betrifft letztlich jeden Schiedsrichter in praktisch jedem Spiel. Die Wichtigkeit dieses Kernmermkals einer guten Unparteiischenleistung zeigt sich besonders dann, wenn Einheitlichkeit fehlt und es in der Folge zu negativen Konsequenzen kommt..


Negative Konsequenzen von Uneinheitlichkeit

Die folgenden negativen Konsequenzen von Uneinheitlichkeit betreffen in erster Linie eine uneinheitliche Behandlung der beiden Teams. Uneinheitlichkeit kann aber auch auf niedrigerer Ebene zustandekommen, und zwar meistens dann, wenn der Schiedsrichter keine klare Linie in seiner Zweikampfbewertung fährt. Zwar ist dann in der Regel nicht ein Team besonders benachteiligt. Gleichwohl führt die fehlende Berechenbarkeit des Schiedsrichters dann häufig dazu, dass auf und neben dem Platz Unklarheit darüber herrscht, was in den Augen des Referees erlaubt und was unerlaubt ist. Irritation und Zweifel sind dadurch vorprogrammiert – und das sind noch die harmlosesten Folgen.

Gerade vor dem Hintergrund des gestrigen Halbfinals sollen hier jedoch Konsequenzen von Uneinheitlichkeit in der Behandlung der beiden Teams im Mittelpunkt stehen:



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Bei den (vermeintlich) benachteiligten Akteuren machen sich ein Gefühl der Ungleichbehandlung sowie Frust und Wut breit.
Diese führen meist unmittelbar zu Protesten, welche die Akzeptanz des Referees bedrohen.
Die Autorität des Schiedsrichters schwindet ebenso wie das Vertrauen in ihn und in die Unvoreingenommenheit seiner Entscheidungen.
Auf Seiten des Schiedsrichters besteht die Gefahr, dass er in der Folge verzerrte Urteile fällt und mehr oder weniger unbewusst versucht, die empfundene Uneinheitlichkeit durch Entscheidungen zugunsten des potenziell benachteiligten Teams zu kompensieren (Negative Kompensation).
Dies wiederum kann zu Protesten auf Seiten des zuvor benachteiligten Teams mit den entsprechenden negativen Folgewirkungen führen - ein Teufelskreis setzt ein.

Besonders schwer wiegt der vorletzte Punkt: Unparteiische sollten nie versuchen, vorherige Fehler, Ungleichbehandlungen oder Proteste zum Anlass zu nehmen, diese in kommenden Situationen zu sehr zu berücksichtigen – auch wenn man als Schiedsrichter oft sehr schnell weiß oder spürt, dass man soeben daneben gelegen hat.

Unbewusste Fehlurteile auf der einen Seite durch bewusste Fehlurteile auf der anderen Seite auszugleichen, ist keine probate Lösung! Stattdessen sollten Schiedsrichter standhaft bleiben, ihre Autorität verteidigen und unvoreingenommene Entscheidungen treffen.

Denn zum einen wird durch eine negative Kompensation das Gebot der Unparteilichkeit verletzt. Zum anderen führen etwaige Konzessionsentscheidungen oder Kompensationsversuche nur zu einem noch größeren Schaden in puncto Vertrauensverlust und Akzeptanz. Dies unterstreicht auch Knut Kircher im folgenden Interviewausschnitt:



Einheitlichkeit erreichen

Doch wie kann man Einheitlichkeit erreichen? Einige praktische Empfehlungen:

1. Ausgewogenheit beginnt schon vor dem Spiel 

Ob bei der Begrüßung, Passkontrolle oder Seitenwahl: In Wortwahl und im gesamten Umgang mit Vereinsverantwortlichen, Teamoffiziellen und Spielern sollten stets ein gleicher Umgang sowie eine angemessene Mindestdistanz angestrebt werden.

2. Klare Linie fahren

Von Beginn an sollte eine klare, einheitliche Linie in der Zweikampf- und Disziplinarbewertung gefahren werden. Diese sollte zum Spiel passen (Stichwort "Spielvorbereitung"), sich aber auch flexibel an die Gegebenheiten und Erfordernisse der jeweiligen Situation anpassen und entsprechende Kalibrierungsräume nach oben (seltener: nach unten) zulassen. Hierfür ist Situationsgespür nötig, das meist mit der Erfahrung reift.

3. Vertrauen gewinnen

Einheitlichkeit hängt eng mit Vertrauen in die Entscheidungen des Schiedsrichters zusammen. Einheitlichkeit schafft Vertrauen – Vertrauen trägt wiederum dazu bei, dass die Spielleitung als einheitlich bzw. fair wahrgenommen wird – beide Komponenten beeinflussen sich wechselseitig. Ein Schiedsrichter kann durch vermeintliche basale Dinge wie Regelsicherheit, akkurate Regelinterpretation, Konzentration und eine vertrauensstiftende Nähe im Positionsspiel sichere Entscheidungen treffen, als einheitlich und berechenbar wahrgenommen werden und dadurch nachhaltiges Vertrauen aufbauen.

4. Auch im Umgang Einheitlichkeit anstreben

Auch im Management von Spielern und Trainern – bspw. bei verbalen Ermahnungen – sollten Schiedsrichter einen gleichen oder zumindest ausgewogenen, der Situation gerecht werdenden Umgang zeigen. Dies betrifft insbesondere die Körpersprache.

5. Taktische Aspekte in Entscheidungsfindung integrieren

Bei strittigen Entscheidungen sollten sich Schiedsrichter stets hinterfragen: Gab es bereits eine ähnliche Situation? Wie habe ich dort entschieden? Wo sollte ich dieses Vergehen in meiner Linie verorten? Wie sieht die Kartenstatistik im Moment aus? Was passiert, wenn ich hier die Karte stecken lasse? 

6. Regelwerk nicht überstrapazieren

Doch Achtung: Liegen bspw. technisch zwingend gelbwürdige Vergehen vor, müssen taktische Überlegungen zunächst in den Hintergrund rücken - Gelbe Karten sind Gelbe Karten.

7. Keine Kompensationsversuche unternehmen

Ganz wichtig: Wahrgenommene Uneinheitlichkeit sollte nicht durch bewusst uneinheitliche Folgeentscheidungen kompensiert oder gar repariert werden.


Fazit

Einheitlichkeit ist ein Kernmerkmal dessen, was gute Schiedsrichter(leistungen) auszeichnet und was Spieler, Trainer und Zuschauer ohne Einschränkung voraussetzen können. Schiedsrichter sollten in ihren Entscheidungen und in ihrem Handeln ausgewogen, berechenbar und verlässlich agieren. Dies schafft Vertrauen, Akzeptanz und Autorität. Ein Mangel an wahrgenommener Einheitlichkeit kann zum Verlust der Souveränität des Unparteiischen führen und birgt die Gefahr, dies bewusst oder unbewusst etwa durch Konzessionsentscheidungen kompensieren zu wollen. Deshalb ist es immens wichtig, dass Schiedsrichter eine klare, flexibel anpassbare, aber stets berechenbar-ausgewogene Linie vorgeben und darauf achten, beide Teams in ihren Entscheidungen und in der Interaktion in gleichen Situationen gleich zu behandeln.

Manuel Gräfe wird die erste halbe Stunde sicher zur eigenen Weiterentwicklung analysieren, traf er doch ansonsten alle wesentlichen Entscheidungen in korrekter oder mindestens vertretbarer Weise. Er wird sich hinterfragen müssen, ob seine Spielleitung zwischen der 20. und 30. Minute nicht ein Stück an Einheitlichkeit und dadurch auch an Autorität und Akzeptanz hat vermissen lassen.

Selbstverständlich lassen sich solche Bewertungen im Nachhinein immer leicht sagen. Denn wenn nach der nicht gegebenen Gelben Karte gegen Xabi Alonso alles ruhig geblieben wäre, hätte man Gräfe wohl Situationsgespür, eine gute Ansprache und eine zum Spiel passende und von den Spielern akzeptierte Linie attestiert. Hinterher ist man schließlich zwar nicht immer, aber doch meistens schlauer.

Nachspielzeit (31. Spieltag): Rot, 'Röter', Stollentreffer oberhalb des Schuhrandes

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Der 31. Spieltag war vor allem durch ein Thema gekennzeichnet: Stollenvergehen oberhalb des Schuhrandes. Während Fürths Benedikt Kirsch und Unions Sebastian Polter in der 2. Bundesliga vollkommen zu Recht Rot sahen, kam Hamburgs Michael Gregoritsch gestern in Augsburg mit Gelb davon. Glück hatte auch der 1. FC Köln, dass der Schiedsrichterassistent zweimal goldrichtig lag und die vermeintlichen Dortmunder Führungstreffer wegen Abseits aberkannte - das eine Mal aus der Wahrnehmung, das andere Mal wohl eher aus dem Bauch heraus.



Augsburg – Hamburg: Gregoritsch im Glück

Als nachMichael Gregoritschs Foulspiel gegen den Augsburger Dominik Kohr die ersten Zeitlupen eingespielt wurden, war sich auch der Adel in Gestalt von Sky-Kommentator und Twittertrend Fritz von Thurn und Taxis (#fritzlove) sicher: „Das ist knallrot!“. Recht hatte er. Was aus der frontalen Perspektive des Schiedsrichters fraglos dunkelgelb ausgesehen haben muss, entpuppte sich vor allem aus Blickwinkeln von der Seite bzw. von schräg hinten als dunkelrot – denn die Kriterien für ein grobes Foulspiel waren vollauf erfüllt.

Ein grobes Foulspiel liegt gemäß Regel 12 dann vor, wenn ein Tackling oder Angriff im Kampf um den Ball übermäßig hart oder brutal von vorn, von der Seite oder von hinten mit einem oder beiden Beinen ausgeführt wird und dabei die Gesundheit des Gegners gefährdet.  

Besonders gesundheitsgefährdend sind Foulspiele meistens dann, wenn der Kontakt mit gestreckten Stollen – landläufig als „offene Sohle“ bekannt – erfolgt. Bei der Beurteilung von Stollenvergehen ist speziell der Trefferpunkt entscheidend. Während niedrige Trefferbereiche, wie z.B. der Schuh oder die Schuhspitze, meistens „nur“ für das Vorliegen eines rücksichtslosen Foulspiels sprechen (wofür es dann die Gelbe Karte geben muss), gelten Trefferpunkte oberhalb des Schuhrandes als klare Indizien für ein grobes Foulspiel. Medizintheoretisch lässt sich dies nicht zuletzt dadurch begründen, dass sich gerade im Bereich der Achillesferse, der Wade oder des Sprunggelenks die für Stollenvergehen anfälligsten Teile der Fuß-Bein-Region befinden. Ganz praktisch unterstreichen nicht allzu weit zurückliegende Verletzungen die Gefahr, die von solchen Foulspielen ausgeht: Johannes Geis‘ Tackle gegen Gladbachs André Hahn setzte Letzteren in der vergangenen Spielzeit für mehrere Monate außer Gefecht; Dortmunds Nuri Sahin konnte nach dem zwingend strafstoß- und feldverweiswürdigen Foul von Gladbachs Strobl von Glück sagen, dass seine Verletzung nicht so schlimm ausfiel, wie zunächst angenommen.

Der Kontakt ist hier schon erfolgt - die Trefferregion lässt sich noch erahnen


Den exakten Trefferpunkt zu lokalisieren, war für den Unparteiischen Manuel Gräfe hier allerdings kein Leichtes. Wie eine Einstellung in etwa aus seiner Position zeigt, sah es von vorn tatsächlich so aus, als habe der Kontakt eher unterhalb des Schuhrandes im Bereich der Hacke stattgefunden. Ob nicht selbst in diesem Fall die Intensität und Gesundheitsgefahr dieses Tacklings mehr für Rot denn für Gelb sprechen, kann dabei jedoch diskutiert werden. Denn trotz Schuhrand-Faustformel ist der Trefferpunkt bei extrem hoher Intensität mitunter nicht mehr ganz so entscheidend.

Idealerweise hätte der Referee einen Hinweis von draußen erhalten und daraufhin Rot gezückt. Der Vierte Offizielle Timo Gerach hatte eine für die Beurteilung der Schwere des Vergehens bessere, wenngleich ebenfalls keine optimale Position. Unklar bleibt für den nicht involvierten Betrachter, ob seine Sicht zum Zeitpunkt des Foulspiels unter Umständen leicht versperrt war.


Mit Teamwork zur richtigen Farbe

Den Durchblick hatte indes Markus Schüller, Vierter Offizieller beim Spiel Arminia Bielefeld gegen Greuther Fürth. Der Kleeblättler Benedikt Kirsch ging kurz vor dem Pausenpfiff mit gestrecktem Bein und offener Sohle in den Zweikampf und traf Bielefelds Tom Schütz dabei mit hoher Intensität im Wadenbereich. Auch hier konnte es nur eine Farbe geben: Rot. Schiedsrichter Dr. Matthias Jöllenbeck war jedoch zunächst im Begriff, die Gelbe Karte zu zeigen. Daraufhin übermittelte der Vierte Offizielle ihm über das Headset die relevanten Informationen und den eindeutigen Hinweis, dass hier zwingend Rot zu geben sei. 

Dieses Beispiel illustriert auf anschauliche Weise, wie wichtig ein antizipatives, nicht-statistisches Stellungsspiel ist. Eigentlich hatte Schiri Dr. Matthias Jöllenbeck einen optimalen, seitlichen Blickwinkel. Sein Pech war, dass ihm ein anderer Fürther im entscheidenden Moment höchstwahrscheinlich im Blickfeld stand. In Situationen, bei denen zwei Spieler unterschiedlicher Teams zum Ball gehen und ihn voraussichtlich in etwa zeitgleich erreichen werden, ahnt man als Schiedsrichter in der Regel, dass es krachen muss und wird. So war es auch hier. Deshalb ist es immens wichtig, in Bewegung zu bleiben und, falls dann dennoch ein Spieler im Blickfeld steht, den Oberkörper bzw. Kopf entsprechend flexibel zu beugen, um nach Möglichkeit das Foul und besonders den Kontakttyp und Trefferpunkt erkennen zu können. Hätte Dr. Jöllenbeck, selbst praktizierender Mediziner im Bereich Orthopädie und Unfallchirurgie, den Trefferpunkt in seiner gefährlichen Form wahrgenommen, hätte er vermutlich ohne zu zögern Rot gegeben – wohl wissend um die Gefahr dieser Art des Tacklings.


Grobes Foulspiel oder Tätlichkeit?

Ähnlich klar waren die Verhältnisse in Berlin: Beim Spiel Union Berlin gegen SV Sandhausen langte Union-Angreifer Sebastian Polter an der Seitenlinie auf überraschende und üble Weise mal so richtig hin. Mit gestreckter Sohle traf (bzw. trat) er Sandhausens Tim Kister im Wadenbereich, der daraufhin vor Schmerzen schrie und glücklicherweise keine schlimme Verletzung davontrug.

Bundesligaaufstiegskandidat Sven Jablonski entschied zu Recht auf Rot. Der Kampf um den Ball war in diesem Moment bestenfalls zweitrangig, so dass es sich bei dem Foulspiel mindestens um einen Grenzbereich zwischen grobem Foulspiel und Tätlichkeit handelte. Auf ganz ähnliche Weise foulte Franck Ribéry vor einigen Jahren – damals noch im Juventus-Dress – Arturo Vidal in einem Champions League K.O.-Spiel. Die UEFA bewertete den Tritt in die Wade, der nicht dem Ball galt, damals folgerichtig als Tätlichkeit. Denn eine Tätlichkeit liegt per definitionem dann vor, wenn ein Spieler ohne Kampf um den Ball übermäßige Härte oder Brutalität einsetzt oder einzusetzen versucht. Da Polters Aktion nicht wirklich dem Ball galt bzw. rückblickend nicht unbedingt als Teil des Kampfs um den Ball zu bewerten ist, kann davon ausgegangen werden, dass das Strafmaß des DFB im Fall Polter trotz anschließend fairen Verhaltens keinesfalls milde ausfallen dürfte.

Pech hatte Sandhausen in der ersten Halbzeit, als ein Stollenvergehen der Berliner im Mittelfeld – allerdings weniger beabsichtigt und vor allem mehr fahrlässig als rücksichtslos oder gar übermäßig hart – nicht geahndet wurde: Im Anschluss an die daraus entstehende Ecke erzielten die Eisernen das 1:0.


Abseits in Dortmund: Wahrnehmung und Intuition

Das 1:0 bejubelten die Dortmunder Borussen gegen den 1. FC Köln gleich zweimal zu früh. Der Spielverderber hieß jeweils Sascha Thielert, 1. Schiedsrichterassistent von Tobias Stieler. Den Dortmundern dürfte Thielert noch bestens bekannt sein – schließlich war er es, der das späte Ausgleichstor der Leipziger in der letzten Minute der Nachspielzeit vor nicht allzu langer Zeit durch seine korrekte Abseitsentscheidung „weggewunken“ hatte.

In der 14. Spielminute hatte Thielert diesmal allerdings mehr Glück als … nun ja, akkurates Positionsspiel. Kurz vor Marco Reus‘ Pass auf den hauchdünn im Abseits stehenden Shinji Kagawa machte mindestens ein Kölner – nämlich Ex-Borusse Neven Subotic – einen entscheidenden Schritt zurück und ließ Kagawa so ins Abseits laufen. Der Assistent an der Seitenlinie machte es dem Kölner jedoch nicht gleich und schaltete eine halbe Sekunde zu spät: Statt ebenfalls zurückzulaufen und somit akkurat auf Höhe des zweitletzten Verteidigers zu stehen, lief er noch ein Stück weiter und machte erst dann einen Satz zurück Richtung Kölner Defensivreihe, als der Ball bereits gespielt wurde. Im Moment der Ballabgabe befand er sich somit 1-1,5 Meter zu weit zur Torlinie. Auffällig war, dass sich der Assistent mit der Seite dem Spielfeld zugewandt fortbewegte - es wäre hier womöglich besser gewesen, sich mit seitlichen Schritten dem Spielfeld zugewandt zu bewegen (denn dadurch kann schneller und flexibler auf gegenläufige Bewegungen bzw. Bewegungsänderungen der Verteidiger reagiert werden). Mit seinem ungenauen Stellungsspiel konnte der Assistent die marginale Abseitsstellung bestenfalls erahnen, aber keineswegs sicher treffen. Dort die Fahne korrekterweise zu heben war mehr oder minder pures Glück – oder, positiver gesprochen, Intuition, die mit der Erfahrung von 172 Spielen als Assistent in der Bundesliga selbstverständlich gereift ist. Denn wie sagte der ehemalige WM-Assistent und heutige Assistentenlehrwart des DFB Jan-Hendrik Salver einmal: „95 Prozent entfallen auf Wahrnehmung, die restlichen fünf Prozent muss ‚der Bauch‘ übernehmen.“ Ob hier nicht eher 95 Prozent auf den Bauch entfielen, sei an dieser Stelle offen gelassen.  

Mit wahrscheinlich nahezu 100 Prozent Wahrnehmung entschied Sascha Thielert dagegen in der 34. Minute erneut auf Abseits, als Marco Reus den Ball im Tor unterbrachte. Er befand sich im Moment des Kopfballs von Castro allerdings hinter dem Torhüter – zur Torlinie war in diesem Moment nur noch ein Verteidiger näher als Reus. Somit befand er sich in einer Abseitsposition, die nur dadurch strafbar wurde, dass er zum Ball ging und ihn spielte. Wäre er weggeblieben, hätte das Tor gezählt. So jedoch zählte es nicht – stattdessen gab es den Daumen von Sascha Thielert, vermutlich in Richtung seines Chefs Tobias Stieler. Und in der Tat, Daumen hoch: Beide wichtigen Entscheidungen saßen – wenn auch in einem Fall mit Glück, das man als Schiedsrichter allerdings auch mal haben muss.


Lehreinheit Nr. 7 (1. Teil): Feedback & Schiedsrichter: Ein Motivations- und Weiterentwicklungsmittel

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Sucht man im Internet nach dem Begriff „Feedback“, so liefern einschlägige Suchmaschinen nicht weniger als 2,73 Milliarden Treffer (Stand: Mai 2017; zum Vergleich: beim Begriff "Football" erhält nur die anzahlmäßige Hälfte der Ergebnisse). Gerade im betrieblichen Kontext ist Feedback heute en vogue - so ist Feedback in vielen Organisationen ein fest verankertes Instrument zur Leistungssteuerung und Zielkontrolle. Auch für Fußballschiedsrichter sind fundierte Rückmeldungen über ihre gezeigte Leistung aus vielerlei Gründen überaus relevant. Bei Feedback handelt es sich um ein Steuerungsmittel, das - wenn es auf bestimmte Art und Weise erfolgt - positiv zur Motivation und Weiterentwicklung von Unparteiischen beiträgt. 



Daher widmet sich die mehrteilige Lehreinheit Nr. 7 den folgenden vier Bereichen:

1. Teil (Theorie):Was ist Feedback und warum ist es für Schiedsrichter wichtig?
2. Teil (Praxis): Wie kann Feedback effektiv und akzeptiert vermittelt werden?
3. Teil (Praxis): An welche Regeln sollten sich Schiedsrichter halten, wenn sie Feedback erhalten?
4. Teil (Praxis): Welche Handlungsempfehlungen ergeben sich für Verbände und SR-Ausschüsse?


Was ist Feedback und welche Formen von Feedback gibt es?

Feedback umfasst die Vermittlung von Informationen über eine zurückliegende Leistung und den aktuellen Stand der Zielerreichung. Lernen aus Feedback basiert u.a. auf dem Prinzip der operanten Konditionierung. Demnach wird ein gewünschtes Verhalten vor allem dann erlernt und wiederholt gezeigt, wenn es verstärkt wird (Belohnung). Unerwünschtes Verhalten wird dagegen abgeschwächt, indem es nicht verstärkt bzw. bestraft wird (Bestrafung) (vgl. Felfe & Franke, 2014).

Dabei wird in der psychologischen Literatur zwischen zwei Arten von Feedback differenziert, nämlich zwischen Feedback, das dem Handelnden Möglichkeiten und Verhaltensweisen zur Zielerreichung an die Hand gibt (informatives Feedback) und Feedback, das dem Handelnden bewertend vermittelt, ob er/sie erfolgreich handelt oder gehandelt hat (evaluatives Feedback) (vgl. Nerdinger, 2013).

In den folgenden Teilen werden zudem die antagonistischen Paare gutes vs schlechtes sowie positives vs negatives Feedback auftauchen. Die Unterscheidung in gutes bzw. schlechtes Feedback bezieht sich auf die Form bzw. den Effekt der Rückmeldung: Gutes Feedback folgt bestimmten Regeln, um möglichst positive Effekte beim Rezipienten (hier: dem Schiedsrichter) hervorzurufen, während schlechtes Feedback auf eine Art und Weise vermittelt wird, die beim Rezipienten negative Effekte wie z.B. Ablehnung oder Demotivation hervorruft. Die Trennung zwischen positivem und negativem Feedback hingegen bezieht sich auf den Inhaltder Rückmeldung: Positives Feedback attestiert dem Rezipienten ein positives Verhalten (z.B.: gute Leistung), negatives Feedback deckt Schwachstellen auf, die in einem nächsten Schritt in Weiterentwicklungspotenziale und möglichst motivierende Verbesserungspunkte und Ziele überführt werden sollten.

Folglich ist es möglich, auch negative Botschaften (bspw. die Rückmeldung über eine schlechte Leistung oder deutliche Schwächen in einem Teil der Spielleitung) auf eine konstruktive und leistungsförderliche Art und Weise – und zwar durch gutes Feedback – zu transportieren.


Warum ist Feedback für Schiedsrichter wichtig?

Bevor die Relevanz von Feedback für die Schiedsrichterpraxis verdeutlicht wird, sollte folgende Anmerkung gemacht werden: Schiedsrichter erhalten von verschiedenen Seiten Rückmeldungen - so natürlich auch in erster Linie von Spielern, Trainern und Zuschauern auf und neben dem Platz. Die vorliegende Lehreinheit setzt sich weniger mit diesem Quellen der Rückmeldung auseinander, als vielmehr mit fachlich fundierten und zwischenmenschlich akzeptierten Feedbackquellen. Damit sind vor allem Schiedsrichterbeobachter, -coaches und Mitglieder des Schiedsrichterteams wie z.B. die Assistenten des Schiedsrichters gemeint.


1. Feedback ergänzt die Selbsteinschätzung

Schiedsrichter haben meistens ein gutes Gespür für die Qualität ihrer Leistung oder, auf einer höheren Ebene, für ihre Stärken und Schwächen. Allerdings wissen Menschen über sich selbst in der Regel nicht alles – ebenso wenig, wie andere Personen nicht alles über einen Mitmenschen wissen.

Das sog. Johari-Fenster nach Luft und Ingham (1955) – eines der am meisten beforschten kommunikationswissenschaftlichen bzw. psychologischen Modelle – veranschaulicht dies auf eindrucksvolle Weise.

Demnach gibt es Bereiche, die sowohl mir als auch anderen Personen bekannt sind (Öffentlicher Bereich). Allerdings gibt es Aspekte über mich selbst, über die ich zwar Bescheid weiß, meine Mitmenschen allerdings im Unwissen lasse (Geheimer Bereich). Auf der anderen Seite wissen andere Menschen in manchen Bereichen mehr über mich, als ich es selbst tue – Dinge, die mir selbst unbekannt sind, sind anderen also bekannt (Blinder Fleck). Selbstverständlich gibt es aber auch Aspekte von mir, die weder mir noch sonst irgendjemandem bekannt sind (Unbekannter Bereich).




Das Ziel von Feedbackprozessen besteht nun darin, das linke obere Fenster, also den Öffentlichen Bereich, zu vergrößern, um so bei einer Person und ihrer Umwelt mehr Wissen über ihre Stärken und Schwächen bzw. ihr Handeln und Verhalten zu generieren.

Einerseits gelingt dies über Selbstoffenbarung: Schiedsrichter sollten gerade in Coachings offen mit ihren Gedanken, Gefühlen und Intentionen umgehen, die sie während eines Spiels dazu verleitet haben, auf eine bestimmte Art und Weise zu agieren. Dies erleichtert es bspw. einem Schiedsrichterbeobachter, das Verhalten des Schiedsrichters in einer bestimmten Situation nachzuvollziehen und vor dem Hintergrund seiner Annahmen, Beweggründe oder Persönlichkeit konstruktiv zu beleuchten. Im Bereich Persönlichkeit kann es in einer vertrauensvollen Coach-Schiedsrichter-Beziehung daher auch helfen, wenn sich der Schiedsrichter seinem Coach auch in sensiblen Bereichen  öffnet (z.B.: „Ich werde vor wichtigen Spielen nervös.“ oder „Mir fällt es sehr schwer, mit Fehlern umzugehen.“), um dann gemeinsam Lösungen zu erarbeiten.

Andererseits gelingt eine Ergänzung der Selbsteinschätzung durch ein Fremdbild über Feedback. Aspekte, die trotz der eigenen Selbsteinschätzung im Unbekannten liegen, sind anderen Personen womöglich sehr wohl bekannt. Prototypisch sei hier der Bereich der Körpersprache genannt - denn die allermeisten Unparteiischen kommen nicht in den Genuss eines Videostudiums des eigenen Wirkens auf dem Platz und können sich daher nur schwerlich selbst beobachten. Durch Feedback von Schiedsrichterbeobachtern können Unparteiische Kenntnis und Tipps über potenzielle Schwachstellen der Spielleitung oder Entwicklungspotenziale im Bereich ihrer Persönlichkeit erlangen, die ihnen ohne eine solche Fremdeinschätzung vielleicht nie bekannt geworden wären. Feedback befördert also bislang Unbekanntes an die Oberfläche.

Eine fundierte Fremdeinschätzung in Form von Leistungsrückmeldungen und Feedback kann daher dazu beitragen, dass Schiedsrichter ihre eigene Selbsteinschätzung kritisch hinterfragen, um bislang Unbekanntes zu ergänzen und dadurch in die Lage versetzt zu werden, an ihnen zu arbeiten.


2. Feedback ermöglicht Bewertung des Stands der Zielerreichung

In der Schirilogie Lehreinheit Nr. 3 („Selbstmanagementals Schiedsrichter (I) – Effektives Zielsetzungsmanagement“) wurde Schiedsrichtern empfohlen, – wenn vorhanden gemeinsam mit dem Coach – konkrete und anspruchsvolle Ziele zu formulieren, um sich auf und neben dem Platz weiterzuentwickeln. Allein mit dem Setzen von Zielen und dem Prozess des Zielstrebens ist es gleichwohl nicht getan. Hat sich ein Schiedsrichter vor kurzem z.B. das Ziel gesetzt, in seiner Körpersprache und seinem Auftreten souveräner, energischer und selbstbestimmter zu wirken, kann er dieses Ziel zu einer gegebenen Zeit nur dann überprüfen, wenn er fundierte Rückmeldungen in Form von Fremdbeobachtungen erhält.

Ziele bilden nach Nerdinger (2013) schließlich „kognitiv den angestrebten zukünftigen Zustand bzw. die zu erreichenden Ergebnisse ab, gleichzeitig bieten sie einen Standard, an dem Handlungsergebnisse gemessen werden. Rückmeldung wiederum vermittelt Informationen, inwieweit der Leistungsstandard erreicht wurde.“ (S. 72)

Verglichen mit dem Setzen von Zielen ist es also mindestens genauso wichtig, fundierte Rückmeldungen über den Stand der Zielerreichung zu erhalten. Denn nur dann können Referees den Prozess des Zielstrebens angemessen bewerten und abschätzen, ob ihr Verhalten bereits in die richtige Richtung geht. Ist dies bereits der Fall, sollte das dazu beitragene Verhalten stabilisiert werden. Ist dies hingegen noch nicht der Fall, muss unter Umständen nachjustiert werden. 


3. Feedback moderiert die leistungssteigernde Wirkung von Zielen

Teil der oben genannten Lehreinheit war eine Darstellung der sog. Zielsetzungstheorie nach Locke und Latham (2002). Gemäß der Theorie wirken Ziele leistungsförderlich, sofern sie nach bestimmten Kriterien definiert und formuliert werden. Ein wichtiger Moderator, der die Stärke dieses Ziel-Leistung-Zusammenhangs verstärkt, ist Feedback: Ohne Feedback "ziehen" mich die gesetzten Ziele auf motivationaler Ebene weniger stark an, als es mit regelmäßigen Rückmeldungen der Fall ist.  


4. Feedback motiviert

Feedback ist eine zentrale Komponente zahlreicher, empirisch abgesicherter Modelle und Theorien aus dem Bereich der Motivationspsychologie. Als Beispiel sei hier das Job Characteristics Model von Hackman und Oldham (1975) dargestellt: Demnach handelt es sich bei der Kenntnis über die Resultate der eigenen Tätigkeit – durch Feedback – um einen kritischen psychologischen Zustand, der positiv zu intrinsischer Motivation, Leistungssteigerung, Zufriedenheit sowie geringerer Fluktuation (in Zeiten des Schiedsrichtermangels ein durchaus relevantes Phänomen) beiträgt und ohne den eine Tätigkeit als nicht motivierend erlebt wird. 



Für eine motivationssteigernde Wirkung ist nach Kim und Hamner (1976) eine Kombination aus evaluativem und informativem Feedback am besten geeignet (d.h.: Schiedsrichtern sollten sowohl Auskunft über die Qualität ihrer Leistung, als auch Handlungs-, Lösungs- und Verbesserungsstrategien an die Hand gegeben werden).


5. Wieso ist es wichtig zu wissen, wie man effektives und akzeptiertes Feedback gibt?

Während gut gegebenes Feedback positive Effekte auf die eigene Leistung, Motivation und Zufriedenheit der betroffenen Person nehmen kann, gilt die gegenteilige Wirkung für schlecht gegebenes Feedback: Zahlreiche Studien und Metaanalysen konnten zeigen, dass Feedback in bestimmter Form und unter bestimmten Umständen – nämlich dann, wenn es nicht gut vermittelt wird – zu Demotivation, Leistungsminderung und der Einnahme einer ablehnenden Haltung führen kann (z.B. Kluger & DeNisi, 1996).

Es kommt darauf an, auch negative Rückmeldungen und Kritikpunkte so zu formulieren und herüberzubringen, dass negative Effekte auf die Motivation, Leistung und Zufriedenheit des betroffenen Schiedsrichters ausbleiben. Und mehr noch: Optimalerweise setzt konstruktive Kritik Impulse frei, die einen Referee dazu motivieren, an von Schiedsrichterbeobachtern oder –coaches identifizierten Verbesserungspunkten motiviert und wirkungsvoll zu arbeiten.

Deshalb gilt der Satz „Jedes Feedback ist besser als gar kein Feedback.“ ausdrücklich nicht
Wie Feedback "gut gegeben" - d.h. effektiv und akzeptiert vermittelt - werden kann, wird im 2. Teil im Mittelpunkt stehen.


Zwischenfazit 

Feedback ist für Schiedsrichter überaus wichtig, um Kenntnis über die eigene Leistung, Stärken und Schwächen sowie den Stand der Zielerreichung zu erlangen. Häufig liegen die dazu notwendigen Aspekte im Verborgenen: Durch Fremdeinschätzungen von Schiedsrichterbeobachtern oder Coaches kann der Schiedsrichter seine Selbsteinschätzung durch für ihn bis dato unbekannte Aspekte ergänzen und Entwicklungspotenziale identifizieren. Feedback wirkt sich unter bestimmten Umständen außerdem positiv auf die Leistung, Motivation und Zufriedenheit einer Person aus. Welche Umstände das sind und wie Feedback effektiv gegeben werden kann, werden die kommenden Teile klären.


Literatur

Felfe, J. & Franke, F. (2014). Führungskräftetrainings. Göttingen: Hogrefe.

Hackman, J.R. & Oldham, G.R. (1975). Development of the job diagnostic survey. Journal of Applied Psychology, 60, 159-170.

Kim, J.S. & Hamner, W.C. (1976). Effect of performance feedback and goal setting on productivity and satisfaction in an organizational setting. Journal of Applied Psychology, 61, 48-57.

Kluger, A. & DeNisi, A. (1996). The effects of feedback interventions on performance: A historical review, a meta-analysis, and a preliminary feedback intervention theory. Psychological Bulletin, 119, 254-284.

Locke, E.A. & Latham, G.P. (2002). Building a practically useful theory of goal setting and task motivation. American Psychologist, 57, 705-717.

Luft, J. & Ingham, H. (1955). The Johari window, a graphic model of interpersonal awareness. In: Proceedings of the western training laboratory in group development, Los Angeles: UCLA.

Nerdinger, F.W. (2013). Arbeitsmotivation und Arbeitshandeln - eine Einführung. Kröning: Asanger.

Lehreinheit Nr. 7 (2. Teil): Feedback & Schiedsrichter: Tipps für effektives Feedback

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Damit Feedback unabhängig von seinem Inhalt akzeptiert wird und positiv zur Weiterentwicklung eines Schiedsrichters beiträgt, sollten einige Feedbackregeln bzw. Handlungsempfehlungen seitens des Feedbackgebers beherzigt werden. 

Nachdem im zurückliegenden 1. Teil bereits der Grundstein für weitere Überlegungen zum Thema Feedback gelegt wurde, stehen daher im vorliegenden 2. Teil Tipps für Feedbackgeber im Mittelpunkt.

1. Teil (Theorie): Was ist Feedback und warum ist es für Schiedsrichter wichtig?
2. Teil (Praxis): Wie kann Feedback effektiv und akzeptiert vermittelt werden?
3. Teil (Praxis): An welche Regeln sollten sich Schiedsrichter halten, wenn sie Feedback erhalten?
4. Teil (Praxis): Welche Handlungsempfehlungen ergeben sich für Verbände und SR-Ausschüsse?

Denn: Nicht jedes Feedback ist besser als gar kein Feedback! Es kommt darauf an, Feedback effektiv, akzeptiert und, vereinfacht gesprochen, gut zu vermitteln!


Tipps für Feedbackgeber (Schiedsrichterbeobachter & -coaches)


1. Feedback unmittelbar und nicht mit zu großer Verzögerung geben.

Vergeht zwischen der Beendigung der Tätigkeit (also einem Spiel) und dem Erhalten einer Rückmeldung zu viel Zeit, besteht die Gefahr, dass die Motivation, sich mit einem weit zurückliegenden Spiel auseinanderzusetzen, sinkt – u.a. deshalb, weil womöglich die Erinnerung an konkrete Situationsabläufe nachlässt. Deshalb: Feedback relativ zeitnah geben!


2. Feedback regelmäßig und in sinnvollen Zeitabständen geben.  

Steht bei der Rückmeldung die Überprüfung einer Zielerreichung im Vordergrund, können die Zeitabstände größer sein (bspw. einmal pro Quartal oder Halbjahr). Handelt es sich um eine Rückmeldung über die Qualität der Spielleitung, so sollte das Feedback idealerweise nach jedem Spiel erfolgen. Entscheidend ist, dass die Häufigkeit des Feedbacks zum konkreten Beurteilungsgegenstand passt und regelmäßig erfolgt– und das gilt auch für Schiedsrichter auf unteren Ebenen. Indem auch niedrigklassig agierende Schiedsrichter ohne immense Karriereambitionen regelmäßig eine Rückmeldung zu ihrer Spielleitung erhalten, können sie - so die im 1. Teil vorgestellte Theorie - langfristig motiviert und an das Amt des Schiedsrichters gebunden werden.
  

3. Ruhige Umwelt und geeigneten Zeitpunkt wählen.  

Bei 140er-Puls 10 Minuten nach dem Abpfiff in der Kabine ein fundiertes Coaching durchzuführen, ist aus psychologischer Sicht überaus problematisch. Die Adrenalin- und Cortisollevels (auf hormoneller Ebene für Stressreaktionen verantwortlich) des Schiedsrichters sind dann gerade nach einem schwierigen Spiel noch erhöht – eine konzentrierte und produktive Aufnahme des Feedbacks wird dadurch erschwert. Besser: Die Rückmeldung nicht in der Kabine, sondern mit zeitlichem Abstand (30-60 min nach dem Spiel und Duschen) in einer möglichst ruhigen Örtlichkeit auf oder neben dem Vereinsgelände geben - also in einer ruhigen Umwelt zu einem passenden Zeitpunkt.


4. Expertise und Kompetenz seitens des Feedbackgebers sicherstellen.  

Feedback wird vor allem dann akzeptiert und entsprechend verarbeitet, wenn dem Feedbackgeber (Beobachter oder Coach) eine hohe Expertise und Fachkompetenz zugesprochen wird. Indizien für Fachkompetenz sind z.B. die Erfahrung des Beobachters, seine hierarchische Position oder Spielklassenzugehörigkeit innerhalb des Verbands, aber natürlich auch die subjektiven Eindrücke, die er beim Schiedsrichter(team) hervorruft. Beobachter und Coaches sollten also sowohl fachlich als auch biografisch Expertise mitbringen.
  

5. Vertrauensverhältnis anstreben.  

Feedback wird besonders dann positiv aufgenommen, wenn zwischen dem Feedbackgeber (Beobachter oder Coach) und dem Rezipienten bzw. Feedbackempfänger (Schiedsrichter) eine von Respekt, Wertschätzung und Vertrauen geprägte Beziehung herrscht. Diese erleichtert es dem Schiedsrichter, sich dem Feedbackgeber zu öffnen und seine Kritik anzunehmen, und dem Feedbackgeber, diese an den Schiedsrichter heranzutragen.
  

6. Positive, partnerschaftliche Gesprächsatmosphäre herstellen.  

Der Ton sollte in Feedbackgesprächen auch bei sachlich-fachlicher Kritik stets positiv sein – sowohl mit Blick auf die Wortwahl, Stimmlage und Körpersprache, als auch mit Blick auf die Schlüsse, die der Beobachter oder Coach aus seinen Beobachtungen zieht. Im Fokus sollte also nicht stehen: „Hier bist du gut/schwach gewesen.“, sondern eher: „Hier kannst du dich stabilisieren/weiterentwickeln.“. Schiedsrichterbeobachter und –coaches sollten in Feedbackgesprächen stets wertschätzend, verständnisvoll und empathisch kommunizieren. Sie sollten dem Schiedsrichter aktiv zuhören und anschließend die eigene Sichtweise offen darlegen - nicht als Kritiker, sondern als Partner des Referees.
  

7. Feedbackempfänger zu einleitender Selbsteinschätzung ermutigen.  

Es bietet sich zu Beginn eines Coachings oder Feedbackgesprächs grundsätzlich an, zuerst den Betroffenen zu Wort kommen zu lassen: Seine Selbsteinschätzung offenbart dem Beobachter oder Coach womöglich schon erste Ansatzpunkte für eine konstruktive Kritik, aber auch wichtige Informationen für die weitere Beurteilung von Spielsituationen. Zudem kann der Beobachter dadurch ein Gefühl dafür gewinnen, worin die (im 1. Teil angesprochenen) bis dato unbekannten Schwachstellen des Schiedsrichters bestehen und was er folglich mehr in den Mittelpunkt der Rückmeldung stellen sollte.

So meint auch Alex Feuerherdt, Lehrwart im Fußballkreis Köln: „Die Schiedsrichter werden auf diese Weise dazu angehalten, ihre Leistung selbst zu reflektieren und in Worte zu fassen. Wenn als Erstes – oder sogar nur – der Beobachter bzw. Coach spricht, drängt das die Selbstreflexion in den Hintergrund oder macht den Referee zu einem bloßen Empfänger von Ratschlägen. Für eine Weiterentwicklung ist das ungünstig.“
  

8. Auf Ausgewogenheit achten.  

Im Feedbackgespräch sollten sowohl positive als auch negative Punkte angesprochen werden. Es sollte eine Balance hergestellt werden zwischen Aspekten, in denen der Schiedsrichter die Erwartungen erfüllt oder übertroffen hat und Aspekten, in denen er sich verbessern und weiterentwickeln kann. Eine verbreitete Technik für Feedbackgespräche, die sich auch für ein Schiedsrichtercoaching eignet, ist die sog. Sandwich-Technik (auch Feedback-Burger genannt):


Hierbei wird das Feedback mit positiven Punkten eingeleitet, um das Eis zu brechen und den Feedbackempfänger für die dann folgenden Weiterentwicklungspunkte in Form von konstruktiver Kritik empfänglich zu machen. Zum Abschluss sollte wiederum das Positive hervorgehoben werden. Somit werden etwaige Kritikpunkte in einen positiven Rahmen eingebettet – was nicht heißt, dass Kritikpunkte nicht auch klar als solche angesprochen werden sollten.
  

9. Niemals Feedback relativieren oder rechtfertigen.  

In dieselbe Richtung geht dieser Punkt: Beobachter und Coaches sollten sich davor hüten, ihr eigenes Feedback inhaltlich oder argumentativ allzu sehr zu verteidigen oder zu rechtfertigen. Mittels Ich-Botschaften („Ich habe XY so oder so empfunden.“ bzw. „Mein Eindruck war, dass Du in der ein oder anderen Szene XY hättest machen können.“) kann es stattdessen gelingen, die Akzeptanz der Beobachtungen sicherzustellen oder zumindest zu erhöhen (denn einen persönlichen Eindruck einer Person kann man nicht leugnen). Sich nicht zu rechtfertigen heißt freilich nicht, die Argumente des Schiedsrichters oder seine Rückfragen abzuwehren – vor allem dann, wenn die Auskunft des Schiedsrichters neue Informationen enthält, die den Eindruck des Feedbackgebers maßgeblich ändern.
  

10. Erfolge und Misserfolge unterschiedlichen Faktoren zuschreiben.  

Erfolge wie eine gelungene Zielerreichung oder sehr gute Leistung sollten stets auf die Fähigkeiten des Schiedsrichters und seine investierte Anstrengung zurückgeführt (d.h. attribuiert) werden. Misserfolge hingegen – wie z.B. verfehlte Ziele oder misslungene Spielleitungen – sollten nie auf die Fähigkeiten, sondern stets auf die investierte Anstrengung bzw. einfach reparable Leistungsschwankungen („Heute hattest Du vielleicht einfach nicht Deinen besten Tag.“) oder zufällige Umweltfaktoren („Das waren heute auch einfach richtig schwierige Bedingungen.“) attribuiert werden.


11. Konkretes, spezifisches Verhalten fokussieren.  

Dieser Punkt ist enorm wichtig. In einer bahnbrechenden Arbeit konnten Kluger und DeNisi (1996) zeigen, dass viele Feedbackprozesse zu negativen und keineswegs immer zu positiven Effekten führen. Ihre Analyse deckte auf, dass Feedback dann zu Leistungs-, Motivations- und Akzeptanzeinbußen führen kann, wenn der Feedbackgeber das Selbstbild des Feedbackempfängers adressiert.

Menschen neigen schließlich dazu, ein positives Bild über sich selbst herzustellen. Kritikpunkte, die auf eben dieses Selbstbild zielen – etwa durch negative, adjektivistische Formulierungen wie „Du warst heute lauffaul.“ oder „Dein Stellungsspiel ist amateurhaft.“ – werden daher eher abgeblockt, um das eigene Selbstbild zu schützen. 

Stattdessen sollte Feedback auf Ergebnisse („Dir fehlte in einigen Situationen, bspw. in den Minuten 10, 25 und 60, die nötige Nähe zum Geschehen, worunter das Vertrauen der Spieler in Deine Entscheidungen manchmal gelitten hat.“) oder – noch besser – auf konkretes Verhalten („Du hast in einigen Situationen, z.B. in den Minuten 10, 25 und 60, Pässe in die Tiefe zu spät antizipiert, so dass Du einige Meter zu weit vom Geschehen entfernt warst. Dadurch kam es zu einigen Protesten seitens der Spieler“) ausgerichtet werden. 

Negatives Feedback sollte daher niemals adjektivistisch und auf das Selbstbild bezogen formuliert werden!
  

12. Konsequenzen und Alternativen aufzeigen.  

Gerade negatives, konstruktiv-kritisches Feedback sollte stets nicht nur für sich allein genannt, sondern immer in Kombination mit dem Aufzeigen von Handlungsalternativen und Lösungsmöglichkeiten vermittelt werden. Zum einen ist es dafür unverzichtbar, dem Schiedsrichter die Konsequenzen seines bisherigen Verhaltens aufzuzeigen. Zum anderen sollten dann konkrete Alternativen benannt und beschrieben werden, die zu positiveren Ergebnissen führen. Dabei kann sich auch an Vorbildern orientiert werden.



13. Positives mit Negativem kontrastieren.  

Gerade mit Blick auf Videoschulungen auf Lehrabenden, aber auch bei der Spiel- oder Zielerreichungsanalyse sollten positive Verhaltensbeispiele mit negativen kontrastiert werden. Dadurch werden Verhaltensunterschiede sichtbar; der Schiedsrichter ist in der Lage, das erwünschte vom unerwünschten Verhalten abzugrenzen und Handlungsalternativen sowie Lösungsmöglichkeiten zu begreifen und zu realisieren. Idealerweise bietet das Verhalten bzw. die Leistung des Referees in demselben Bereich (z.B.: Stellungsspiel) Positiv- und Negativbeispiele. Es bietet sich dann an, diese gezielt und konkret miteinander zu vergleichen.

Dadurch wird dem Schiedsrichter auf einfache und akzeptierte Weise vermittelt: „Schau her, das solltest Du in Zukunft anders machen, und zwar so, wie Du es bspw. in der 20. Minute gemacht hast!“. Dadurch werden dem Schiedsrichter, wie in Punkt 12. skizziert, Alternativen aufgezeigt, die er selbst bereits positiv umgesetzt hat - dies stärkt letztlich sein Selbstvertrauen ("Mensch, ich kann es doch eigentlich, ich habe es in der 20. Minute doch bereits gezeigt!").
  

14. Konkrete Maßnahmen ableiten.  

Werden konkrete Verbesserungspunkte identifziert, so sollten anschließend Wege besprochen und festgehalten werden, wie diese umgesetzt werden können - in anderen Worten: Konkrete Maßnahmen sollen formuliert werden.
  

15. Das Selbstvertrauen des Feedbackempfängers stärken.  

Nach der Darstellung potenzieller Verbesserungspunkte sollten Feedbackgeber wie Beobachter oder Coaches den Schiedsrichter mit Zuversicht in seinem Glauben bestärken, dass er das Gewünschte leisten und erreichen kann.
  

16. Umsetzung der Maßnahmen evaluieren und ggf. Folgemaßnahmen planen.  

Werden konkrete Maßnahmen zur Umsetzung von Verbesserungspunkten definiert, ist bereits ein wichtiger Schritt getan. Allerdings reicht eine Definition von Zielen und Maßnahmen nicht aus: Ihre Wirksamkeit und Umsetzung sollte zu einem angemessenen Zeitpunkt überprüft und evaluiert werden (bspw. über Leistungsprofile). Was hat die Überprüfung ergeben? Wurde das Ziel (z.B.: Fitnesstest bestehen) erreicht? Wenn ja, wie kann der aktuelle Zielerreichungsstand verfestigt werden (vielleicht noch anspruchsvollere Zeiten als künftige Zielsetzung?)? Wenn nein, inwiefern sollten andere Strategien zur Zielerreichung erörtert und eingeleitet werden (wie Training anpassen?)?


Die dargestellten Tipps für Feedbackgeber sind in dieser Checkliste noch einmal aufgelistet.

Im kommenden Teil werden erneut Feedbackregeln thematisiert - dann jedoch jene, die für Feedbackempfänger gelten.

Der Trickle-Down-Effekt: Bibiana Steinhaus als inspiratives Vorbild

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Bibiana Steinhaus wird als "First Lady" Spiele in der Bundesliga leiten. Selten hat der Aufstieg eines Referees ins deutsche Fußballoberhaus vergleichbar euphorische Reaktionen in den Medien ausgelöst. Während in der WELT vom „Fußballkrieg der Geschlechter“ die Rede war, verzettelte sich so mancher BILD-Kolumnist in einem Rundumschlag gegen die „Ü50-Machos“ des DFB und deren „Altherren-Denken“. Solche Reaktionen zeigen, dass es offenbar doch noch nicht selbstverständlich ist, dass Leistung vor Geschlecht kommt. So wünscht sich auch Bibiana Steinhaus, „als Schiedsrichterin, nicht als Frau“ beurteilt zu werden (s. Reviersport.de. Besonnener und produktiver reagierte dagegen der oft gescholtene Fußballweltverband FIFA in Person seiner vor fast genau einem Jahr ernannten Generalsekretärin Fatma Samoura: Steinhaus sei „eine Inspiration“. Und ja, genau darin liegt (die) ein(zig)e große Chance des Hypes um Bibiana Steinhaus: Junge Mädchen und Frauen zur Aufnahme einer Schiedsrichterinnentätigkeit zu inspirieren.



Der Trickle-Down-Effekt - ein Durchsickern von oben nach unten

Forscher der Universität Paderborn und der Deutschen Sporthochschule Köln haben untersucht, ob zwischen Aufstiegen von Schiedsrichtern in höhere Ligen und der Anzahl bereits aktiver und neuer Referees innerhalb des betroffenen Landesverbands ein positiver Zusammenhang besteht.

Die Autoren der Studie, Prof. Dr. Bernd Frick und Dr. Pamela Wicker, stützten diese Vermutung auf das Prinzip eines Trickle-Down-Effekts, der bereits in anderen Segmenten des Sports nachgewiesen werden konnte: Demnach nehme der Profisport eine inspirative Funktion für den Amateursport wahr, welche zu einer erhöhten Aktivität und Anzahl ihn ausübender Personen führe.

Ein gutes Beispiel dafür ist der Tennis-Boom der 80er- und 90er-Jahre, der Deutschland nach Boris Beckers und Steffi Grafs Erfolgen erfasste und nicht nur zu steigenden TV-Quoten, sondern auch zu zunehmenden Mitgliedszahlen in deutschen Tennisvereinen beitrug.

Der sportliche Erfolg eines Modellathleten im Profibereich sickert demnach von oben nach unten durch und inspiriert zur Nachahmung, intensivierten Anstrengung oder gar erstmaligen Aufnahme der entsprechenden sportlichen Tätigkeit. 


Positive Vorbilder: Lernen am Modell

Psychologisch fußen diese Überlegungen auf der sozialkognitiven Lerntheorie (Modelllernen) nach Albert Bandura. Demzufolge kann Verhalten allein auf Basis von Beobachtungen des Verhaltens einer fremden Person (einem Modell) erlernt und gezeigt werden (Lern- und Imitationsphase).

Eine Nachahmung des beobachteten Verhaltens (hier: sich als weibliche Schiedsrichterin im Männergeschäft „Fußball“ engagieren, behaupten und stets an die eigenen Chancen und Stärken glauben) erfolgt speziell dann, wenn es positive Vorbilder gibt.

Lockwood (2006) definiert Vorbilder - sog. "role models" - "als Individuen, die ein Beispiel für jenen Erfolg sind, den man erreichen will und die häufig ein Muster an Verhaltensweisen zeigen, die zur Erreichung dieses Erfolgs notwendig sind" (S. 36, Übersetzung d. Verf.). Somit bilden Erfolg und Leistungsexzellenz ein zentrales Kriterium, das eine Person erfüllen muss, um als modellhaftes Vorbild in Frage zu kommen.

Entscheidend für die Nachahmung des Verhaltens ist zweitens die Frage, ob das modellhafte Verhalten neutrale oder sogar positive Konsequenzen nach sich zieht – also ob es belohnt wird (hier: Aufstieg in die Bundesliga, positive mediale Resonanz). Ist dies der Fall, so kann sich die Beobachterin vom beobachteten Modell inspiriert fühlen; die Hemmschwelle, das Verhalten zu zeigen (hier z.B.: selbst das Amt der Schiedsrichterin ergreifen), sinkt. Anders formuliert: Das Modell ist es wert, imitiert zu werden.

Drittens tritt dieser Effekt vor allem dann auf, wenn zwischen der Beobachterin bzw. dem Beobachter (hier: einer potenziellen Jungschiedsrichterin) und dem Modell (hier: Bibiana Steinhaus) eine hohe subjektiv empfundene Ähnlichkeit und Identifikation bestehen – etwa mit Blick auf das Alter, die Nationalität bzw. regionale Herkunft oder - im Zusammenhang mit Bibiana Steinhaus sehr relevant - das Geschlecht.


Mehr zur Trickle-Down-Studie

Die beiden oben erwähnten Forscher konnten den vermuteten Zusammenhang zwischen Aufstiegen in höhere Ligen und der Anzahl an Schiedsrichtern bzw. Neulingen in Teilen statistisch nachweisen.

Methodik 

Die Autoren erfassten für alle 21 Landesverbände des DFB Daten über die relative Anzahl vorhandener Schiedsrichter, die relative Anzahl neu rekrutierter Schiedsrichter (jeweils pro 1.000 SR) und die absolute Anzahl von Aufsteigern in die 3. Liga, 2. Bundesliga, 1. Bundesliga und auf die FIFA-Liste. Der betrachtete Zeitraum umfasste die Jahre 2005 bis 2014. Anhand dieser Datenbasis prüften die Forscher mittels einer sog. Regressionsanalyse, ob zwischen den jeweils ein Jahr zurückliegenden Aufstiegen potenzieller Vorbilder und der relativen Anzahl an vorhandenen und neu rekrutierten Unparteiischen statistisch bedeutsame Effekte bestanden.

Ergebnisse 

Zwischen Aufstiegen von Vorbildern in die drei höchsten deutschen Ligen sowie der Aufnahme in die FIFA-Liste und der Anzahl vorhandener Schiedsrichter in demselben Landesverband bestanden jeweils signifikante, positive Zusammenhänge. Zwischen Aufstiegen von Schiedsrichtern in die 1. Bundesliga und der Anzahl in seinem Landesverband ein Jahr später neu gewonnener Schiedsrichter bestand ebenfalls ein positiver und statistisch bedeutsamer Effekt. Zwischen einem Aufstieg auf die FIFA-Liste und der Anzahl neu gewonnener Schiedsrichter in dem betroffenen Landesverband zeigte sich hingegen ein negativer statistischer Effekt. Aufstiege in die 3. Liga oder 2. Bundesliga wiesen indes keine relevanten Zusammenhänge auf.

Diskussion

Für Landesverbände, die in ihrem Unparteiischenpool einen Aufstieg in höhere Ligen vermelden konnten, wirkte sich dieser laut der Autoren positiv auf die Gesamtzahl vorhandener Schiedsrichter im Folgejahr aus. Die Autoren ordnen dies als einen positiven motivationalen Effekt ein, der bereits aktive Schiedsrichter dazu motiviert, ihrem Amt treu zu bleiben. 

Auf die relative Anzahl neu rekrutierter Schiedsrichter wirkten sich in demselben Landesverband erzielte Aufstiege in die 1. Bundesliga positiv aus, nicht jedoch jene in die 2. Bundesliga oder 3. Liga. Dies erklären sich die Forscher damit, dass letztgenannte Ligen in den Medien seltener und weniger intensiv auftauchen und daher weniger Gelegenheit besteht, sich mit ihnen zu identifizieren. 

Aufstiege in die 1. Bundesliga seien hingegen mit einem inspirativen Effekt zu erklären, der gerade junge Personen dazu antreibt, Schiedsrichter zu werden. Bundesligaaufsteiger würden demnach als positive Vorbilder dienen, deren Verhalten und Erfolge zur Nachahmung inspirieren – also ganz im Einklang mit der sozialkognitiven Lerntheorie nach Bandura (1985). 

Aufstiege auf die FIFA-Liste hatten gemäß den Ergebnissen hingegen einen negativen Effekt auf die Neugewinnung von Schiedsrichtern im jeweiligen Landesverband. Frick und Wicker vermuten, dass dies auf das schlechte Image des Fußballweltverbands in Folge von Korruptionsaffären zurückzuführen sein könnte: Junge Menschen würden demzufolge vom Amt des Schiedsrichters abgeschreckt, anstatt durch einen FIFA-Neuling aus dem eigenen Verband positiv inspiriert zu werden. Ob dieser Kausalzusammenhang wirklich zutrifft, darf allerdings bezweifelt werden; dieser wäre nur dann schlüssig, wenn sich junge, meist fußballaffine Personen, die bis dato noch keiner Schiedsrichtertätigkeit nachgehen, a) um die Verbandszugehörigkeit eines FIFA-Neulings wissen, b) dahingehende Informationen aktiv einholen oder diese zumindest wahrnehmen und c) ihre Entscheidung, Schiedsrichter zu werden oder nicht zu werden, von diesen negativen Informationen abhängig machen würden. Weiterhin schließen die Daten auch die Jahre um die Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland mit ein, in denen das Image der FIFA noch nicht die aktuellen Formen aufwies. All dies zusammengenommen muss der Erklärungsansatz als eher unwahrscheinlich beurteilt werden. 

Denkbar wäre folgender alternativer Erklärungsansatz: Verbände könnten sich nach einem erfolgreichen FIFA-Aufstieg eines ihnen zugehörigen Spitzenschiedsrichters auf diesen Lorbeeren ausruhen und im Folgejahr weniger Energie in die Anwerbung von Schiedsrichterneulingen investieren.


Steinhaus als Botschafterin für Schiedsrichterinnen und junge Mädchen?

Ein Trickle-Down-Effekt sollte sich für die drei anderen Bundesligaaufsteiger Sven Jablonski (Bremen), Martin Petersen (Württemberg) und Sören Storks (Westfalen), die in der medialen Berichterstattung nahezu komplett untergingen und auch in diesem Artikel bislang unerwähnt blieben, in ihren Landesverbänden ebenfalls bemerkbar machen. Dies bleibt zu hoffen, denn im Gegensatz zum weiblichen Teil der deutschen Referees sind die Zahlen der aktiven männlichen Schiedsrichter seit Jahren deutlich rückläufig (-9% zwischen 2009 und 2015; Frauen: praktisch keine Veränderung). 

Es wird dennoch äußerst interessant sein, die zahlenmäßige Entwicklung weiblicher Schiedsrichterinnen in den kommenden Jahren zu verfolgen. 

Den Überlegungen der sozialkognitiven Lerntheorie sowie den Befunden von Frick und Wicker folgend, kann davon ausgegangen werden, dass Steinhaus‘ Aufstieg positive Effekte auf die Neugewinnung weiblicher Schiedsrichterinnen haben dürfte - und zwar auch langfristig, wenn erstens die mediale Resonanz auf ihre Leistungen so ausfällt, wie sie es bei jedem anderen männlichen Referee tun würde, und zweitens mit Riem Hussein oder Katrin Rafalski zwei Schiedsrichter(assistent)innen künftig vielleicht noch höher aufsteigen und Steinhaus somit kein Einzelfall bleibt. Grundsätzlich wird es natürlich die Aufgabe des DFB und der einzelnen Landesverbände sein, das positive Rollenvorbild in der Bundesliga in ihren Kommunikations- und Werbestrategien zur Schiedsrichtergewinnung einzubeziehen.

Und deshalb – wie in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung zitiert – sieht sich die Hannoveranerin selbst als „Botschafterin: für Schiedsrichterinnen und junge Mädchen, die es werden wollen“. Wenn der mediale Hype um ihren Aufstieg für etwas gut war, dann vielleicht genau dafür.


Literatur

Bandura, A. (1985). Social Foundations of Thought and Action: A Social Cognitive Theory. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall.

Frick, B., & Wicker, P. (2016). Recruitment and Retention of Referees in Nonprofit Sport Organizations: The Trickle-Down Effect of Role Models. Voluntas, 27, 1304-1322.

Lockwood, P. (2006). "Someone like me can be successful": Do college students need same-gender role models? Psychology of Women Quarterly, 30, 36-46.